Wahnsinn und Kalkül: Wie weit noch bis zum atomaren Inferno bzw. Dritten Weltkrieg?

Angesichts des heute fast allenthalben grassierenden Kriegsgeschreis und neuen Aufrüstungs-Tsunami – aktuell durch SIPRI und ICAN gerade mit besorgniserregenden neuesten Daten aufgezeigt – ist es dienlich zunächst an Marx und Engels zu erinnern. Denn das Streben nach Sozialismus war für beide zugleich auf des engste mit den Idealen des Antimilitarismus, der Abrüstung und des Friedensverbunden.

Entsprechend schloss denn auch Marx in seiner Inauguraladresse der I. Internationale von 1864, den Kampf um eine neue „auswärtige Politik“ strategisch dem „allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse“ verwoben ein. Denn erst einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, „deren internationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht – die Arbeit!“, wird sich das Interesse an Abrüstung und Antimilitarismus auch wesensgemäß einfügen. Vor dem Hintergrund der Boulangerkrise von 1888, dem sich hochschaukelnden Rüstungswettlauf und der sich abzeichnenden Weltkriegsgefahr, erweiterte und konkretisierte Friedrich Engels in seiner Artikelserie „Kann Europa abrüsten?“ von 1893 angesichts des drohenden „Verwüstungskrieg(s), wie die Welt noch keinen gesehen hat“ dann zum Ende seines Lebens seine Überlegungen zur „Abrüstung“ und setzte die Abrüstungspolitik auf die stetige Gegenwartsagenda der Arbeiter.innenbewegung. Von einer solchen sind wir heute freilich Meilenweit entfernt. Im Gegenteil. In der Gegenwart führen vielmehr Militarismus und Hochrüstung neue, geradezu multiplizierte Urstände.

„Wir leben in einer der gefährlichsten Zeiten in der Geschichte der Menschheit“

„Wir leben in einer der gefährlichsten Zeiten in der Geschichte der Menschheit“, warnte denn auch SIPRI-Direktor Dan Smith diese Woche anlässlich der Vorstellung des Jahresberichts des Internationalen Friedensforschungsinstituts. „Wir haben seit dem Kalten Krieg nicht mehr erlebt, dass Atomwaffen eine so herausragende Rolle in den internationalen Beziehungen spielen“, ergänzte begleitend SIPRI-Forscher Wilfred Wan eindringlich. Die flankierend vorgelegte Studie der Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) wiederum zeichnete nach, dass die Ausgaben für die entfesselte weitereAufrüstung an nuklearen Waffensystemen in den vergangenen fünf Jahren um mehr als ein Drittel (von 68 Milliarden Dollar auf 91 Milliarden Dollar) angestiegen sind. Entsprechend sprach ICAN-Chefin Melissa Parke auch unmissverständlich von „einem nuklearen Wettrüsten“. Knapp 52 Milliarden davon, und damit mehr als „alle anderen Atommächte zusammen“, entfielen dabei allerdings auf die USA. Auf die – zum Vergleich der militärischen Kräfteverhältnisse und den Drehbeiträgen an der Rüstungsspirale – zweite Atomgroßmacht Russland mit 8,3 Milliarden Dollar indes ‚nur‘ unwesentlich mehr als auf die nächste NATO-Militärmacht Großbritannien mit 8,1 Milliarden Dollar. Gleichviel: „Diese Zahlen sind obszön“, wie Parke mit einem Vergleich plastisch hervorstrich. Mit dieser Summe (seit 2018 zudem addierte 387 Milliarden Dollar) könntedas Welternährungsprogramm den globalen Hunger in der Welt beenden, so die ICAN-Chefin.

Ideen eines führbaren Atomkriegs reloaded

Die im Kontext des neuen Weltordnungs- wie Ukrainekriegs darüber hinaus eingezogene, „unfassbare Nonchalance“ mit welcher heute in den Hauptquartieren der NATO und zahlreichen Hauptstädten des Metropolenkapitalismus wieder über die Führbarkeit eines Atomkriegs diskutiert und seine Überlebbar- und Gewinnbarkeit erwogen wird, verschlägt selbst hartgesottensten ehemaligen militärischen Führungskreisen und westlichen Militärs wie etwaHelmut Ganser (Brigadegeneral a.D., ehemaliger Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel) die Sprache.

Denn anstatt diesem apokalyptischen Rüstungs- und Blockkonfrontations-Katalysator an – gegebenenfalls über – die Schwelle eines neuen, großen heißen Kriegs den Kampf anzusagen, hallt es quer durchs politische Establishment und die Leit- und „Qualitäts-“Medien Tag für Tag: „Waffen, Waffen, Waffen“. Und so kennzeichnen forcierte und beschleunigte Auf- und „Nachrüstung“, „modernisierte“ Atomwaffenarsenale und das Bestreiben nach mehr Nuklearwaffen in höherer Einsatzbereitschaft die heutige Lage. Parallel verlegt die NATO gerade ihre „Mini-Nukes“, eine faktisch neue Generation von Atombomben, um Kernwaffenkriege (für die USA) „(regional) führbar“ zu machen (denn, von Europa bliebe nicht vielmehr als eine radioaktiv strahlende Ruinenlandschaft), wird in Großmanövern der Atomkrieg und die atomare Teilhabe geübt, erklärt die NATO auf ihrem Vorjahresgipfel in Vilnius den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen erneut als unvereinbar mit der NATO-Strategie, beharrt das westliche Militärbündnis auf seiner strategischen Verankerung einer sogenannten „Vorwärtsverteidigung“ oder „präventiven“ Atomwaffen-Erstschlägen und legt mit dem steten, immer aggressiveren ‚Austesten‘ der russischen, aber auch chinesischen Verteidigungsdoktrinen mehr und mehr die sprichwörtliche Lunte an das Pulverfass.

Begleitend kündigte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Ausbau des einsatzbereiten Atomwaffenarsenals des westlichen Militärbündnisses an, sprich: mehr Atomraketen und Sprengköpfe aus den Silos auf Scharf zu stellen. Mit der neuen Aufrüstung an Kernwaffen, der neuen Generation von Atombomben und den  – einst schon in die Mottenkiste der Nuklearkriegs-Zocker verräumten – Unterminierungsvorhaben der ohnehin fragilen Balance des atomaren „Gleichgewichts des Schreckens“ im Sinne des „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“ (durch neue „Abwehr“systeme wie „Sky Shield“ – von Österreich gerade unterzeichnet – oder der gemeingefährlichen Attacke auf die russischen Atomraketen-Frühwarnradare), wird nicht weniger als der Idee führbarer resp. geplanter Atomkriege wieder der Weg gebahnt. Denn mit der gewälzten Idee bzw. dem Unterfangen einer mutmaßlichen Möglichkeit gezielter „Enthauptungsschläge“ gegen die politischen und militärischen Führungsstrukturen des Kontrahenten oder dem Glauben, die eigene Abwehr so dicht und präzise organisiert zu haben, dass man die Atomraketen des Gegners alle oder mindestens weitgehend abfangen kann, und damit eine Gegenwehr des Kontrahenten (weitgehend) auszuschalten, oder den Wahnsinnsangriffen auf die Nuklearabwehr des Gegners, kann sich nämlich die nämliche Seite in der Lage zu einem Atomkrieg wähnen.

An der Schwelle der apokalyptischen Gemeingefährlichkeit: Wahnsinn mit Vorsatz

Vom die Schwelle zur Gemeingefährlichkeit schon längst überschritten habenden politischen Personal und der Journaille des Westens als „spektakulärer Schlag“ Kiews (und der USA) gegen „Moskau“ und „Putin“ gefeiert, stockte Militärexperten hingegen der Atem ob des Wahnsinnsakts der mehrmaligen Bombardierung russischen Radarsysteme zur Frühwarnung vor US-amerikanischen Atomschlägen auf die Russländische Föderation. Diese Angriffe, so selbst der ansonsten stets medial zu Wort gebetene, bekannte österreichische Militärstratege und Militärhistoriker Markus Reisner, „könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten“. Die Lage sei damit „neuerlich eskaliert“ worden und „überaus ernst“ (ohne der Ukraine überdiesauch nur den geringsten militärischen Vorteil zu bringen).

Das russische Frühwarnsystemzur Aufklärung und Erfassung anfliegender nuklearer ballistischer Gefechtsköpfe (also besagte „Woronesch“-Radare) ist, wie spiegelverkehrt jenes der USA (BMEWS und NORAD), schlicht essentiell für das labile Gleichgewicht des atomaren Patts. Die Angriffe auf es  dienten, wie auch Karin Schröter in „Spiel mit dem Nuklearkrieg“ gerade nochmals hervorhob „offensichtlich dem Zweck, herauszufinden, wie rasch und wie zuverlässig diese Objekte ausgeschaltet werden können. Denn sie sind Auge und Ohr des russischen strategischen Militärarsenals. Ohne sie ist es völlig blind, nähert es sich der Nutzlosigkeit. Dies alles mit Blick auf einen Russland entwaffnenden blitzartigen Erstschlag mit strategischen Kernwaffen. Nur so kann es für die Angreifer einen Funken Hoffnung geben, aus einem thermonuklearen (dritten) Weltkrieg als Sieger hervorzugehen, ja, überhaupt selbst zu überleben.“ Angesichts dessen äußerte sich jüngst auch der ehemalige Vorsitzender des NATO-Militärausschusses Harald Kujat noch eindringlicher als Markus Reisner: „Ich befürchte“, so der Ex-NATO-Militär zum Vabanquespiel des Westens, „der Ukraine-Krieg könnte zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden“ – und sei es „bloß“ aus Versehen durch Missverständnisse und Fehlinterpretationen oder auch forcierte Provokationen bzw. ein halsbrecherisches militärisches Austesten.

Karl Liebknecht und die „Nonchalance“ einer gewissen zeitgenössischen Linken

Und die Lage ist – mit Markus Reisner gesprochen – in der Tat „überaus ernst“. Denn insofern sich eine militärische Eskalation des tobenden globalen Großkonflikts um die Weltordnung, gar ein neuer großer Krieg heute im Atomzeitalter abspielt, also gegebenenfalls mit Nuklearwaffen ausgetragen wird, droht in einer oder einem solchen, angesichts des verheerenden Vernichtungspotentials, auch das Ende der menschlichen Zivilisation als realistisches Szenario. Die Kluft zwischen dem vielfach verwilderten zeitgenössischen Denken einer gewissen Linken und den historischen Köpfen der Arbeiter:innenbewegung könnte diesbezüglich kaum größer sein. Schon Karl Liebknecht sah (noch vor dem Gemetzel des Ersten und dem Mordbrennen, den Opferbergen und Verheerungen des Zweiten Weltkriegs sowie der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und anschließenden Atomzeitalters) in seinem unbestechlichen antimilitaristischen Kampf bereits 1907 ahnungsvoll die Entwicklung von Waffensystemen voraus, welche die Selbstvernichtung der Menschheit bedeuten könnten.  „In der Tat können wir damit rechnen, dass, wenn auch in einer fernen Zukunft, die Technik, die leichte Beherrschung der gewaltigsten Naturkräfte durch den Menschen, eine Stufe erreichen wird“, auf der „eine Anwendung der Mordtechnik … die Selbstvernichtung des Menschengeschlechts bedeuten würde.“ Damals noch erst für eine ‚fernere Zukunft‘ antizipiert, herrscht heute, selbst in einer gewissen Linken, eine „unfassbare Nonchalance“ vor.  Bei Fortbestand eines nuklearen Patts, so unsicher diese Hypothese ob der Planspiele führ- und gewinnbarer Atomkriege auch ist, würde ein neuer, großer heißer Krieg und seine Stellvertreterkriege, so kann man verklärend vernehmen, wohl eh stärker mit konventionellen Waffen ausgetragen. Eine „Entwarnung“ können darin ob der vorhersehbaren Opfer und Verwüstungen mit Blick auf die modernen konventionellen Waffenarsenale freilich nur „kriegsertüchtigt Angekommene“ erkennen. Liebknecht, den man Wein schwenkend zusammen mit Rosa auch in diesen Kreisen schon mal gern reminiszent auf den Lippen führt, hätte ihnen den Kampf erklärt.

NATO-Hochrüstung 4.0 – „Auf zur letzten Schlacht!“

Dem nicht genug. Beklagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am NATO-Gipfel in Vilnius noch, dass bis dahin nur sieben Mitgliedsstaaten des Militärpakts die 2%-Selbstverpflichtung erreichten, bedankte er sich diese Woche für die aufgrund der „größte(n) (Ausgabe-)Steigerung seit Jahrzehnten“ (wie Joe Biden sekundierte) nunmehrige „Rekordsumme“ an Rüstungsausgaben von sage und schreibe 1,5 Billiarden Dollar. Nachdem das Zwei-Prozent-Ziel auf dem letzten Gipfel als „Untergrenze“ für Militärausgaben am BIP rechtlich bindend festgeschrieben wurde, werden es heuer bereits zwei Drittel erfüllen – wohingehend sein besonderer Dank den europäischen NATO-Staaten galt. Mit dieser für Schreibtischfeldwebel:innen und Kriegsbesessenen regelrecht euphorischen Auftaktbotschaft zum bevorstehenden NATO-Jubiläumsgipfel in Washington und Neuinthronisierung Mark Ruttes, werden die Waffen nicht nur gegen Russland in neuer Dimension scharf gestellt, sondern entlang des sogenannten globalstrategischen „360-Grad-Ansatzes“ des Militärpakts auch für den eigentlichen Großkonflikt des 21. Jahrhunderts – gegen den (Wieder-)Aufstieg Chinas und die Ambitionen des Globalen Süden insgesamt. Sprich zur seit einem Jahrzehnt dramatischen Militarisierung der Ostflanke ebenso nochmals in der Asien-Pazifik-Region forciert hochgeschraubt, flankiert um Interessenssphären im Süden. Dem ORF, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt eines neutralen Landes, war dies nur eine aus dem NATO-Hauptquartier stammen könnende Vollzugsmeldung für die Rüstung zu einem Dritten Weltkrieg wert: „Mehrheit der NATO-Staaten knackt Budgetziel“. Denn, wie US-Präsident Joe Biden bereits in seiner ersten Rede als US-Präsident „Zur Lage der Nation“ unmissverständlich erklärte: „Der Rest der Welt kommt immer näher. Und zwar schnell. Wir können nicht erlauben, dass es so weitergeht.“ Fehlte in den Ätherwellen des Öffentlich-Rechtlichen auch nur mehr das „Hurra! – Auf zur letzten Schlacht!“

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