Zu Inhalt und analytischer Schärfe des Begriffs Antisemitismus, Teil I

Man braucht, mit einer der vielen Diskreditierungen gesprochen, als „Arbeiterbewegungs-Marxist:in“, Antifaschist:in, Antiimperialist:in, ja als Linke:r heute schon eine Elefantenhaut. Während allenthalben die Ausländerfeindlichkeit und der Rassismus aufbranden und der tatsächliche Antisemitismus neue Urstände feiert, kampagnisieren die Enkel:innen Karl Luegers und die Leitmedien eine neue Feindbildbestimmung: den sogenannten „linken Antisemitismus“. Der Kampf-Topos und die Begriffsschindluderei selbst, sind indes nicht neu, sondern eine Kreation aus dem vermeintlich „linken“ Vorhof des Herrschaftsdiskurses durch die sog. „Antideutschen“, die schon vor Jahrzehnten zum Kampf gegen die angeblichen „Antisemiten und andere Proletarier aller Ländern“ (H. L. Gremliza) des „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ geblasen haben. Neu ist allerdings die Resonanz und Diskurshoheit ihres verwilderten Denkens und ihrer hysterischen Diffamierungen, sowie die Phalanx – von Viktor Orban, über Geert Wilders bis zu Giorgia Meloni – in die sich die Antideutschen zur Schlacht und mit Pose einreihen. 

Ja, liest man ihre Punzierungen und verfolgt ihren Diskurs (zumal im Zusammenhang des Gaza-Kriegs), dünkt einem als wäre der Holocaust nicht von den Machteliten des NS-Regimes geplant, organisiert und ins Werk gesetzt worden, sondern auf den Stammtischen der Subalternen beschlossen worden und wollten die „Proletarier aller Länder“, Antiimperialist:innen diverser Couleurs, ein Gros der weltweit namhaftesten Feministinnen, die globale Prominenz linker Intellektueller sowie die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung heute mit Hilfe der Palästinenser:innen im Nahen Osten die „Endlösung“ vollenden. Nur dürftig getarnt unter „Free Palestine“-Losungen an Stelle des Mordbrenner-Rufs der Nazis „Juda verrecke“. Selbst die linke israelische Opposition, die israelische Friedensbewegung und renommierteste jüdische Intellektuelle sowie Aktivist:innen für ein gerechtes und friedliches Neben- und/oder Miteinander der jüdischen und arabischen Bevölkerung, stehen im Verdacht als „willige Vollstrecker“.

Das gilt bisweilen selbst noch für den Ruf nach „Ceasefire Now“, dem eine perfide Annihilation des Existenzrechts Israels unterschoben wird. Denn das Befreiungsstreben und der Befreiungskampf der Palästinenser gilt ihnen seit ehedem quasi generell und nicht erst seit dem 7. Oktober als „eliminatorischer Antisemitismus“, sprich: wird sozusagen per se mit einem Vernichtungswillen assoziiert. Daher seien nachfolgend und in einem 2. Teil denn auch einige Grundsätzlichkeiten zur Geschichte des Antisemitismus, der analytischen Schärfe des Begriffs und der Frage: „Was ist Antisemitismus?“ gegen diese wahnwitzige Diskurshoheit in Erinnerung gerufen sowie Prinzipielles mit Blick auf die politische Lage ausgeführt.

Die ist umso nötiger als der herrschaftliche Diskurs strikt diffamierungs-hermeneutisch gestrickt ist. Hier gilt Edtstadlers Faustkeil-Popanz – der auch dadurch nicht ‚vernünftiger‘ wird, dass Kriegsideologen und Modeliteraten wie Bernard Henri Lévy analoges dekretieren. Vereinzelte Ausnahmen in der Medienlandschaft sind – neben dem bemühten Karim El-Gawhary – Eric Frey (DerStandard), der das herrschende Narrativ: Kritik an Israel sei mehr oder weniger per se schlimmster Antisemitismus, nicht gelten lässt. Und Robert Treichler (Profil) der angesichts der vielfältig aufgekochten „abstrusen Antisemitismus-Bezichtigungen“ ebenfalls moniert, dass „mittlerweile alles als antisemitisch (gilt), was nicht ins enge Korsett einer generellen Rechtfertigung israelischer Politik und Kriegsführung passt“.

Freilich, die Antideutschen würden dem selbst bei einwandfreiem Bestand des bekannten 3D-Tests (ob dahinter nicht Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelstandards; Nathan Sharansky) damit kontern, dass sich die Kritik am israelischen Kriegskabinett dennoch nur vordergründig gegen die israelische Politik und Kriegsführung etc. richte, unterschwellig oder in Wahrheit jedoch gegen „den Juden“ in Netanjahu, in Smotrich und Ben-Gvir sowie das Existenzrecht Israels gerichtet sei. Aus diesem hermeneutischen Zirkel der Antideutschen gibt es sonach auch kein rationales Entrinnen.

I)

Hier ist, obschon eigentlich unabdingbar, nicht der Platz, die christlich-konfessionellen Wurzeln des Judenhasses in Europa (wozu eigentlich schon bis auf Paulus, zu allermindest bis auf Kirchenvater Augustinus ins 4. Jhd. zurückgegangen werden müsste) und die ungeheure, tief ins Denken und Gefühlsleben des christlichen Abendlands eingedrungene Wirkmacht von 1.000 Jahren rabiatem religiösen Antijudaismus geboten nachzeichnen zu können. Dass Judenhass und Judenmord, Pogrome, rechtliche Diskriminierung, Vertreibung, massenhafte Tötungen und bluttriefende Massaker seit dem ersten Kreuzzug (1096) – der sogleich mit den viehischen antijüdischen Pogromen in Rouen, Worms, Speyer oder Mainz begann – zur unseligen „Normalität“ und zum integralen Bestandteil im und des christlichen Abendlands gehörten, sei denn auch nur in Erinnerung gerufen. Der Antijudaismus – der freilich schon ab dem 4. Jhd. mit dem Inbrandsetzen von Synagogen, Verknechtungen und massenhaften Tötungen einherging – steigerte sich mit dem von Papst Urban II. ausgerufenem Kreuzzug zum wahren Blutrausch und schonungslosen Massakern, deren Feuer und Schwert auch die damaligen jüdischen Gemeinden in Palästina und Jerusalem zum Opfer fielen. Die Berichte des Kreuzritters Gottfried von Bouillon (erster ‚König von Jerusalem‘) und anderer sind bekannt. Das Gemetzel der „gottgefälligen“ Kreuzfahrer nahm ein Ausmaß an, „dass die Unsrigen bis zu den Knöcheln im Blut wateten“: „Gott will es!“

Ebensowenig näher nachgezeichnet werden kann im hiesigen Kontext, dass dieser christliche Antijudaismus auch durch die Reformation alles andere denn gebrochen wurde, ja durch den rabiaten Antisemitismus Luthers vielmehr noch weiter befeuert wurde. Die Juden – „leibhafftige Teufel“, so der Reformator –, seien als Volk der „Gottesmörder“ vielmehr so zu strafen, „dass die Gassen voll Bluts rönnen, dass man ihre Toten nicht mit Hunderttausend, sondern mit Zehnhunderttausend rechnen und zählen müsste“. Ein glatter Aufruf zum millionenfachen Massenmord an den Juden. Auch die frühen Anfänge der rassen-antisemitischen „Blutsreinheits-“Politik in der (wiederum katholischen) spanischen Reconquista, müssen hier ausgeblendet bleiben. Jedenfalls, der „Ausweg der Taufe“, der „Konversion“ wurde mit dem Erlass des Gesetzes der „Reinheit des Blutes“ 1449 durch dieses Blutsunreinheitsstereotyp, das selbst das Sakrament der Taufe (gegen die „im Blut“ ‚anders- und bösartigen Juden‘) relativierte, bereits seinerzeit in Richtung einer untilgbar vererbten, („rassischen“) „Minderwertigkeit“ theoretisiert.

Und, gemeinhin dem historischen Gedächtnis verloren gegangen, zeichneten sich auch die USA durch einen mainfesten calvinistischen Antisemitismus der Pilgerväter gegen das angeblich „durchböste“, „durchteufelte“ Volk der Juden aus. Auch wenn dieser, in der sich als Erbin des Alten Testaments fühlenden puritanischen Tradition, nicht eins zu eins dem kontinentaleuropäischen gleichgestellt werden kann. Gleichwohl verblüffend ist dennoch, dass die – im Unterschied etwa zur sog. Dreyfus-Affäre in Frankreich – kurz zuvor aufgebrochene Krise der Judenemanzipation in den USA samt deren drastischer Kollektivmaßnahmen weitestgehend dem Vergessen anheimgefallen ist bzw. erfolgreich übergegeben werden konnte. Wiewohl vorrangig (aber nicht ausschließlich) der Logik des totalen Kriegs entsprungen, bildet diese antijüdische Ungeheuerlichkeit des amerikanischen Bürgerkriegs (1861 – 1865) heute einen weißen Fleck im kollektiven Gedächtnis. Im Sezessionskrieg von der Generalität des Unionsheers der systematischen Unterminierung der gegen den Süden verhängten Wirtschaftsblockade verdächtigt bzw. angeklagt, kam es in dessen Zuge auf Befehl General Grants zu breitflächigen Judendeportationen. Freilich wäre es ahistorisch und zu grobschlächtig, diese ausschließlich gegen Juden gerichtete Deportation mit den Wegsperrungen der Juden in Ghettos in den römisch-katholischen Ländern Europas nach Vorbild der christlichen Verräumung der jüdischen Bevölkerung auf die venezianische Insel „Ghetto“ bzw. dem auf vatikanischem Territorium in Rom eingerichteten „Musterghetto“ Anfang und Mitte des 16. Jhd. gleichzusetzen. Der gängige Persilschein für „God’s Own Country“ ist allerdings allemal ein blindes Narrativ.

Indessen, eine Geschichte des Antisemitismus – samt seiner Wandlungen vom Antijudaismus zum modernen oder neuzeitlichen Antisemitismus und Rassenantisemitismus im 19. Jahrhundert, seinem Charakter wie seinen Ausprägungen zum und im Erstem Weltkrieg, seiner Geschichte in der Zwischenkriegszeit, seiner Bedeutung und Rolle im Austrofaschismus, seiner Gipfelung in der Singularität des Holocaust im Nazi-Faschismus und seiner weiteren, flexiblen Entwicklung – würde freilich einen eigenen Beitrag erfordern.

II)

Dass in diesem Zusammenhang (neben den Falschmünzereien des Begriffs, dessen Beraubung an analytischer Schärfe und elaboriertem Gehalts, den Entgrenzungen und durchsichtigen Motiven, samt „antideutscher“ Hanebüchereien) des politischen Diskurses der schwarz-grünen Regierung, auch die Sozialdemokratie in krude Diskreditierungen, Diffamierungen und absonderliche Topoi verfällt, ist nur bezeichnend für deren objektiven Zustand und Rolle wie Ausdruck der zwischenzeitlich hegemonial-gestifteten gesellschaftlichen Diskurslage. Im Unterschied zur geschichtsvergessenen, sich jetzt gerierenden SPÖ, sind in der Tradition der revolutionären Arbeiter:innenbewegung verwurzelte und sich der Marxschen Theorietradition verpflichtet begreifende Strömungen, natürlich etwa Friedrich Engels Brief und Warnung vor jedwedem Antisemitismus in der Arbeiterbewegung nach Gründung der österreichischen Sozialdemokratie vom 19. April 1890 nur allzu gewahr. Dass dieser ob seiner immensen Bedeutung bereits kurz nach Gründung am 9. Mai 1890 auch in der „Arbeiter-Zeitung“ veröffentlicht wurde, dürfte in der heutigen Sozialdemokratie in der Marx und Engels schon lange kein Bürgerrecht mehr genießen – obschon Letzterer zudem auch persönlich maßgeblich an deren Wiege stand – hingegen nur mehr SP-Historiker:innen und einigen Vereinzelten bekannt sein.

Und während Friedrich Austerlitz in seinem Leitartikel zum großen Sündenfall und historischen Wendepunkt der Sozialdemokratie vom 4. August 1914 – der Unterstützung der imperialistischen Kriegspolitik und Bejahung des Ersten Weltkriegs –, die Proponenten der linken Opposition in klar pejorativer Tönung und Absicht als „jüdische Akademiker“ abstempelte (um gegen Friedrich Adler, Robert Danneberg und die weiteren KriegsgegnerInnen Front zu machen) und Engelbert Pernerstorfer kurz darauf mit einem Artikel zum „Typus Danneberg“ sekundierte (mit dem Fußpunkt eines angeblichen „Typus“ eines vaterlandslosen „jüdischen Akademikers“, dem ein „deutscher Arbeiter“ nicht folgen dürfe), war die heroische, internationale „Zimmerwalder Linke“ – in deren Tradition die revolutionären Strömungen und Flügeln der Arbeiterbewegung stehen – immun gegen diesen antisemitischen Ungeist.

Mehr noch: „Schande und Schmach über den, der Feindschaft gegen die Juden und Hass gegen andere Völker schürt!“, rief Lenin in einer bekannten Erklärung gegen den Antisemitismus vielmehr aus, und bediente sich im vielfach noch analphabetischen Russland von ihm mit dieser Erklärung besprochener Schallplatten, um dem Antisemitismus und Pogromismus in Russland auf breitester Front entgegenzuwirken. Dass dahingehend eine unverbrüchlich gemeinsame Denkeinstellung und Haltung der „Zimmerwalder“ herrschte, braucht hier nicht ad Person ausgeführt zu werden, sondern genügt es zumindest mit Nachdruck festzuhalten. Angeführt sei einzig noch Rosa Luxemburgs (beiher polnische Jüdin), die zugleich eine seinerzeit ebenso prominente wie ausgesprochene politische Gegnerin des Zionismus (Stichwort: „Palästina-Ghetto“) war.

Letzteres, die heute grassierende erstaunliche Deutung des „Antizionismus“ als vermeintliche Form des „Antisemitismus“ (nach der Rosa Luxemburg von Figuren wie einer Karoline Edtstadler oder dem „antideutschen“ Vorhof des politischen Diskurses schon auf die Anklagebank gezerrt wäre), führt denn auch nahtlos zum nächsten Punkt der zwischenzeitlich gestifteten Wandlung der Kategorien und Begriffsschindluderei im Herrschaftsdiskurs. Notierte Theodor Herzl, Ahnherr des (westlichen) Zionismus, seinerseits noch, dass es unter europäischen Jüdinnen und Juden weit verbreitete Meinung ist, im „Zionismus eine Abart des Antisemitismus“ zu erblicken (wie auch Max Nordau, langjähriger Wegbegleiter Herzls, beklagte), gilt den herrschenden hegemonialen Ideologemen heute gerade das Gegenteil. Aber selbst diese Frage hatte schon Vorläufer in der Arbeiterbewegung, die abermals erneut auch bis auf Marx und Engels verweisen. Die Kontroverse entspann sich in der Arbeiterbewegung bekanntlich an Moses Hess‘ Buch „Rom und Jerusalem“ von 1862. Moses Hess‘, schon in der „Rheinischen Zeitung“ eng mit Marx und Engels zusammenarbeitend und Mitglied der Ersten Internationale, nahm in seiner Schrift als gleichsam erster Vorläufer des Zionismus bereits 35 Jahre vor Theodor Herzl (der Hess‘ Buch erst nach Erscheinen seines programmatischen Buchs „Der Judenstaat“ 1896 kennenlernte) etliche Aspekte des späteren Zionismus vorweg. Und stieß damit ebenso auf Widerspruch seitens Marx und Engels, wie später Rosa Luxemburgs – aber auch etwa Victor Adlers und Karl Kautskys – die den Zionismus ablehnten (ohne hier auf dessen unterschiedliche Richtungen und Strömungen des Zionismus eingehen zu können bzw. die dahingehenden spezifischen Differenzen in den theoretischen Ansätzen der herangezogenen Proponent:innen der Zweiten Internationale nachzeichnen zu können).

Man muss hierzu, aber das wäre eine gesonderte Thematik, auch nicht auf die  Arbeiter:innenbewegung fokussieren, wie die fundamentalen Kritiken Hannah Arendts umgehend vor Augen führen würden, die Theodor Herzl den französischen Journalisten Bernard Lazare gegenüberstellte. Denn, um den diesbezüglichen Angelpunkt mit dem italienischen Philosophen und Historiker Domenico Losurdo auf den Punkt zu bringen: „Im Gegensatz zu Herzl versuchte Lazare die Emanzipation der Juden nicht durch ein paar koloniale Zugeständnisse zu fördern, die den damaligen Großmächten abzuringen sind; vielmehr bezieht er den Kampf der Juden und den der anderen unterdrückten Völker, den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den kolonialen Rassismus in ein umfassendes antikolonialistisch und antiimperialistisch ausgerichtetes revolutionäres Vorhaben ein.“

Freilich, um es mit dem bedeutenden österreichisch-jüdischen marxistischen Theoretiker Alfredo Bauer (der als 15-jähriger mit seiner Familie vertrieben wurde und in Argentinien Zuflucht fand) zu sagen: nach dem Jahrtausendverbrechen des Nazi-Faschismus „(musste) für die Masse der entwurzelten Juden Europas ein Asyl [sprich: eine Heimstatt] gefunden werden“. Nur ist das mitnichten mit linker und jüdischer Kritik am Staat Israel, an dessen politisch zionistischer Staatsdoktrin und Politik, nicht zuletzt an dessen Besatzungsregime und Kriegsgängen, oder der Solidarität mit Palästina und den Rechten der Palästinenser:innen zu vermengen. Diesbezüglich zugleich unterscheidend zwischen einer nötigen Heimstätte der Juden und der jüdischen Emanzipation einerseits und dem politischen Zionismus, dem Zionismus als kolonialistisch-expansiver nationalistischer Ideologie und dem Staatszionismus Israels mit seinem ethnisch-exklusiven Charakter, Ausgrenzungsmechanismen, Gewaltpotential und militaristischen Charakter sowie der israelischen Gesellschaft und der rechtesten Regierung in der Geschichte des Landes andererseits.

Teil II erscheint kommende Woche

Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1970-041-46 / Unknown / CC-BY-SA 3.0

 

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