Der 2. Oktober oder der 120. Jahrestag des Vernichtungsbefehls zum ersten Genozid im 20. Jh.

Anfang des 20. Jahrhunderts leitete eine 1904 einsetzende Welle machtvoller Aufstände in Afrika eine neue Ära im antikolonialen Befreiungskampf ein. Im seinerzeitigen Jänner erhoben sich zunächst die Herero im Norden des damaligen Deutsch-Südwestafrikas (heute: Namibia) gegen das deutsche Kolonialjoch. Berlin beantwortete ihren Aufstand mit einem kolonialen Vernichtungskrieg unsäglichen Gräuels: dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, dem rund 80% der Herero zum Opfer fielen. Am gestrigen 2. Oktober 1904 – auf den Tag vor 120 Jahren – erließ der kaiserliche Oberbefehlshaber, Generalleutnant Lothar von Trotha, überhaupt den monströsen, expliziten Vernichtungsbefehl.

„Weil deutsche Kolonialverbrechen in Afrika ein halbes Jahrhundert früher endeten als die Englands und Frankreichs“ (da das Deutsche Reich als Kriegsverlierer durch den Versailler Vertrag seine kolonialen Besitzungen nach dem Ersten Weltkrieg verlor), „blieben die etwa eine Million Toten, die deutscher Kolonialismus in Afrika verursacht hatte“ – so Sabine Kebir – und die kolonialen Verbrechen Deutschlands bis hin zum ersten Genozid des 20. Jahrhunderts indes stärker im Schatten. Umso wichtiger für einen Klarblick auf Geschichte und Verfasstheit des metropolitanen Imperialismus, sich das Ganze als das Wahre des Systems in Erinnerung zu halten und der unerträglichen – geschichtlichen wie gegenwärtigen – Selbstgefälligkeit „des Westens“ entgegenzutreten.

Der „Wettlauf um Afrika“ und die Aufteilung des Kontinents am Verhandlungstisch der Berliner Kongo-Konferenz

Der sogenannte „Wettlauf um Afrika“ unter den Kolonialmächten und Kolonialrivalen hatte zwar schon früher begonnen. Die entscheidende Grundlage für die fast restlose Aufteilung des afrikanischen Kontinents in Kolonien markierte historisch dann jedoch die Berliner Afrika-Konferenz (auch als Kongo-Konferenz bekannt) vor 140 Jahren (genauer: vom 15. November 1884 bis 26. Februar 1885), auf der die vom deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck geladenen Großmächte über die Zukunft und eine einträchtig abgesteckte koloniale Aufgliederung Afrikas berieten.

Auf ihr legten die Vertreter Frankreichs, Großbritanniens, Spaniens, Portugals, Hollands, Belgiens, Italiens, Österreich-Ungarns, Dänemarks, Schwedens, Norwegens, Russlands und natürlich des Deutschen Kaiserreichs, sowie Vertreter aus den USA und dem Osmanischen Reich am Reißbrett riesiger Landkarten des Kontinents dessen Aufteilung unter sich fest. Afrikaner – die Delegierten am Berliner Verhandlungstisch waren seinerzeit wie selbstverständlich männlichen Geschlechts – waren nicht vertreten (wie Aert von Riel seine jüngst erschienene Arbeit zum bis heute verschwiegenen deutschen Völkermord in Deutsch-Ostafrika eröffnet).

„Es liegt auf der Hand“, äußerte nur wenige Jahre zuvor der Kaufmann und Reeder Adolph Woermann, eine Schlüsselfigur der deutschen Kolonialwirtschaftskreise, „dass in Afrika zwei große ungehobene Schätze sind: Die Fruchtbarkeit des Bodens und die Arbeitskraft vieler Millionen Neger.“

Nach dreimonatigem Feilschen war das Objekt der Begierde filetiert, die Kolonialsphären abgesteckt und multilaterale Verträge abgeschlossen sowie eine „Generalakte“ (Kongo-Akte) verabschiedet. Man feierte einander mit dieser einträchtigen Kolonialunterwerfung die „Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften“ zu fördern und huldigte zum Abschluss „edlen Absichten“ des Privatstaats des belgischen Königs Leopold II. im Kongo – ein viehisches Schreckensregime, dem binnen kürzestem 10 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Die Grenzverläufe in Afrika – vielfach geradezu ins Auge springend wie mit dem Lineal gezogen, mitten durch historisch gewachsene Regionen und kulturelle ethnisch-religiöse Gebiete hindurch und andererseits Räume mit keiner oder kaum einer gemeinsamen Vorgeschichte neu versammelnd –, sowie das vielfältige Erbe des Kolonialismus, der Kolonialverbrechen und der Entwicklungsblockaden (siehe, gerade neu aufgelegt, etwa Walter Rodneys Klassiker „Wie Europa Afrika unterentwickelte“) legen noch heute Zeugnis jener Zeit, als der Kontinent unter den Kolonialmächten am europäischen Verhandlungstisch aufgeteilt und unterworfen wurde.

Der Meilenschwindel als erster Grundstein Deutsch-Südwestafrikas

Den ersten Grundstein der nach der „Kongo-Konferenz“ zügig vorangetriebenen weiteren Kolonialisierung Namibias (sowie parallelen Errichtung eines kolonialen deutschen Überseereichs) legte bereits zuvor ein mieses Schurkenstück. Am 1. Mai 1883 erwarb ein Beauftragter Adolf Lüderitz‘, Sohn eines Bremer Handels- und Tabakmagnaten und ein weiterer prominenter Wegbereiter des deutschen Kolonialismus aus der Geschäftswelt, ein Stück Land auf dem er Kupfervorkommen vermutete von Nama-Oberhaupt Josef David Fredericks für einen „Handelsposten“. „Vermessen ließ Lüderitz die Fläche in den damals gebräuchlichen englischen Meilen [1,6 km], im Vertrag war dann lediglich von ‚Meilen‘ die Rede“, wie ebenso Christian Selz unlängst nochmals in Erinnerung rief. Entsprechend beanspruchte Lüderitz die viermal längeren deutschen Meilen [von 7,5 km], also eine rund 16mal größere Fläche. „Da in unserem Kaufvertrag steht – 20 geographische Meilen im Inland –, so wollen wir diese auch beanspruchen“, wies Lüderitz seinen Beauftragten Heinrich Vogelsang an. „Lassen Sie Fredericks aber vorerst im Glauben, dass es 20 englische Meilen sind.“ Die Proteste der Nama gegen dieses Geschäftsgebaren stießen in Berlin auf taube Ohren. „Das Täuschungsmanöver ging [letztlich] als Meilenschwindel in die Annalen ein“, so derFreitag. Dem Vertrag folgten im selben Jahr noch weitere betrügerische Verträge zur Landerwerbung und: die Erklärung der okkupierten Gebiete zu deutschen „Schutzgebieten“ sowie „Seiner Majestät, Wilhelm I.“ Marine, kaiserliche „Schutztruppen“ und das Hissen deutscher Flaggen auf nunmehr „deutschem Boden in Afrika“ – wie es mit stolz geschwellter Kolonialherrenbrust hieß.

Aufstand der Verzweifelten

Die – neben den Nama – von kolonial-rassistischer Unterdrückung, Demütigung, Landraub, Dezimierung ihrer Rinderherden, Deportationen und Gewalt gepeinigten und verzweifelten Herero, denen sich die Nama anschlossen, wagten im Jänner 1904 den Aufstand gegen die deutschen Kolonialherren. Der Aufstand kam für die deutschen Kolonialkreise völlig überraschend – obgleich ihm bereits im 19. Jahrhundert eine Reihe kleinerer Erhebungen verschiedener Ethnien, vor allem der Nama, vorausgegangen waren. Ihr ausgeprägter Rassismus hatte sie dazu verleitet, die von ihnen unterjochten Herero zu unterschätzen.

Jedoch gilt mit Gerd Schumann: Die von Kolonialismus und dem Joch rassistischen Herrenmenschentums „betroffenen Völker revoltierten früher oder später dagegen. Sie wehrten sich gegen Terror, Mord und Totschlag, Sklavenarbeit und Entrechtung. Die Geschichte des Kolonialismus, so auch des deutschen, ist zugleich die Geschichte von Kämpfen Unterdrückter gegen ihre Unterdrücker. Dass sich die aufgestaute Wut über Unrecht irgendwann in Widerstand verwandeln kann, ist keine Gesetzmäßigkeit, aber doch wahrscheinlich. Es geschieht in allen deutschen Kolonien.“

Und auch die ‚Antwort‘ des deutschen Kolonialismus wiederholte sich. Dem Genozid an den Herero und Nama 1904 in Deutsch-Südwestafrika folgte mit der brutalen Niederschlagung des breit getragenen antikolonialen Aufstands im Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika (heute: Tansania) und der „Strategie der verbrannten Erde“ bereits 1905 der zweite Völkermord im deutschen Kolonialreich des noch jungen 20. Jahrhunderts. An Opferzahl den Genozid an den Herero und Nama sogar noch in den Schatten stellend.

Die Herero, die ihre Erhebung aufgrund einer Reihe weiterer koloniale Verordnungen, Enteignungen, Vertreibungen und Reservats-Pläne, vielfach als letzte Chance auf ein Leben in Freiheit begriffen, beschlossen im Dezember 1903 den Aufstand und drängten ihr Oberhaupt Samuel Maharero den Kampf aufzunehmen. Nichts drang nach außen. Auch die Herero-Christen, Gemeindemitglieder, Lehrer und Missionshelfer hatten die Aufstandsvorbereitungen geheim gehalten und beteiligten sich fast ausnahmslos am bewaffneten Kampf gegen die verhasste Fremdherrschaft. Am heutigen 12. Jänner begann dieser mit erfolgreichen Angriffen gegen militärische Stützpunkte der Deutschen (zunächst der deutschen Festung in der Kleinstadt Okahandja) und Farmen deutscher Siedler in Zentralnamibia. Trotz beachtlicher Anfangserfolge (etwa auch der Einnahme des deutschen Armeeposten am Waterberg) gelang es ihnen jedoch nicht, Ortschaften oder Kasernen einzunehmen. Ihre größten Erfolge erzielten sie vorrangig gegen koloniale Landgehöfte und einzelne Truppen bzw. stationierte Soldaten.

Der Beginn des Kolonialmassakers gegen den Aufstand

Die daraufhin um über zehntausend Mann verstärkte „Schutztruppe“ (welch unsäglicher Euphemismus), eine zu jener Zeit dazu bereits moderne Armee (bestückt und bewaffnet mit schwerer Artillerie und Maschinengewehren), unter dem (schließlichen) Kommando Generalleutnants Lothar von Trotha, reagierte mit brutaler Gewalt, einem Kolonialmassaker sondergleichen sowie befohlenem Völkermord: Der kaiserliche Oberbefehlshaber, der den Befehl zu vollständigen Vernichtung der Empörung – ja, der Herero „als solcher“ – ausgab, ließ fast das gesamte Volk der Herero in die Wüste jagen, diese abriegeln und die wenigen Überlebenden in Konzentrationslager und Reservate zur Zwangsarbeit internieren.

Die Herero, die entsprechend ihres Moralkodex sowie auf Weisung Mahareros ihrerseits weiße Frauen und Kinder sowie Mischlinge und eine Reihe weiterer Gruppen verschonten, unterlagen in letzter Instanz der erdrückenden Überlegenheit der deutschen Kolonialherren und erlagen durch die Berliner Order einer bedingungslosen Unterwerfung und weitgehenden Vernichtung.

Oberbefehlshaber Lothar von Trotha: „Ich glaube, dass die Nation [der Herero] als solche vernichtet werden muss“

Trotha – der im Namen des Kaisers bereits 1896 die Wahehe-Erhebung, ein Aufstand in Ostafrika, blutig unterdrückte und 1900/01 an der Niederschlagung des Boxeraufstands in China beteiligt war – war keine zufällige Wahl. Demgemäß erklärte er auch von sich in kolonialer Herren(menschen)manier: „Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut … Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen …“ Weil sich „der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt beugt, … müssen [die Herero] jetzt im Sandfeld untergehen.“

Die Politik von Major Theodor Leutwein, des nun enthobenen Gouverneurs in Deutsch-Südwestafrika 1895 – 1904, galt den herrschenden Kreisen der kaiserlichen Reichsregierung und der Generalität als zu zaghaft. Ihnen galt es nicht „nur“ den Aufstand entschlossen niederzuwerfen, sondern den Krieg bis zur vollständigen Vernichtung des Gegners zu treiben. Dem entsprechend erklärte Trotha in einem Brief an Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen vom 4. Oktober 1904 denn auch: „Gouverneur Leutwein und einige ‚alte Afrikaner‘ … wollten schon lange verhandeln und bezeichnen die Nation der Herero als notwendiges Arbeitsmaterial für die zukünftige Verwendung des Landes. Ich bin gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss …“ Ein Satz, den er in seinem Schreiben gleich dreimal wiederholte.

Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts

Demgemäß ließ er zunächst die Dörfer der Herero sowie umherziehende Viehzüchtergruppen angreifen und trieb sie mit der überlegenen Feuerkraft der Deutschen bewusst in Richtung Wüste, ließ das Gebiet der Omaheke-Salzwüste abriegeln und vergiftete die vorhandenen Wasserstellen bzw. unterband anderweitig die Wasserversorgung. Die Kapitulationsangebote der Herero wurden vom neu entsandten Gouverneur Deutsch-Südwestafrikas und Oberbefehlshaber der Truppen Wilhelm II. brüsk abgelehnt. Tausende Herero starben an den von den Deutschen vergifteten Wasserlöchern unter den Augen der sie umzingelnden kaiserlichen Truppen. Abertausende weitere verdursteten mitsamt ihren Familien und Rinderherden in der Ödnis der Kalahari.

„Die Überlebenden mussten ebenso wie gefangene Nama in – bereits damals so benannten – Konzentrationslagern Zwangsarbeit leisten; ein großer Teil von ihnen starb an Hunger und Krankheiten“, wie Anke Schwarzer deren weiteres ‚Schicksal‘ skizziert. „Im verbleibenden Jahrzehnt deutscher Kolonialherrschaft wurden jene, die mit dem Leben davon kamen, enteignet, in Reservate gesperrt, vergewaltigt und zur Arbeit gezwungen. Deutsche Unternehmen und Farmen konnten die versklavten Menschen für ihre Arbeitseinsätze in Minen, auf Weiden und an Eisenbahnlinien ‚bestellen‘.“ Weit über 70.000 Herero (von 80.00 bis 100.000), sprich: bis zu 80% der damals zweitgrößten Stammesgruppe des Landes, fielen dem Kolonialmassaker zum Opfer, dazu etwa 10.000 Nama, mehr als die Hälfte.

Kolonialer Rassismus und Genese(n) am deutschen resp. westlichen Wesen

Vereinzelten moralischen Skrupeln begegnete man im Sinne der kolonialen Topoi. Stellvertretend für jene rassistisch-kolonialistische Denkeinstellung und das westliche Herren-Denken, sei etwa der in Deutsch-Südwestafrika tätige Wirtschaftssachverständige Paul Rohrbach herangezogen, der moralischen Zweifeln an der kolonialen Unterwerfung und ihren viehischen Praktiken entgegnete: Fortschritt entwickle sich, indem man die „afrikanischen Rassen“ der „weißen Rasse“ dienstbar mache, und zwar durch „den Erwerb der größtmöglichen arbeitenden Tüchtigkeit“. Diesem Rassismus korrespondierend lässt sich etwa auch eine Eingabe deutscher Siedler zu „unseren Eingeborenen“ heranziehen, dass „es nicht gut möglich (ist), dieselben als Menschen im europäischen Sinne anzusehen“.

Und genau diese Ansicht teilten auch der deutsche Kolonialismus in Afrika und der kaiserlichen Generalleutnant Trotha und spann sich bis in das Kolonialmassaker fort: „Dieser Aufstand ist und bleibt der Anfang eines Rassenkampfes.“

Löbliche Ausnahmen: Zeitgenössischen deutsche Kritiker im heutigen Namibia

Einer der minderheitlichen Kritiker, wie der Missionar Elger, formulierte zur Lage und den Verhältnissen in einem Brief an die Rheinische Missionsgesellschaft: „Die eigentliche Ursache der Erbitterung der Hereros gegen die Deutschen ist ohne Frage die, dass der Durchschnitt der Deutschen hier den Eingeborenen ansieht und behandelt als ein Wesen, welches mit dem Pavian (Lieblingsname für Eingeborene) so ziemlich auf einer Stufe steht. … Daher gilt dem Weißen sein Pferd und sein Ochse mehr als der Eingeborene.“

Derselbe Elger schilderte nach Ausbruch des Aufstands der Herero gegen ihre Peiniger dann die Reaktion der Siedler in düsteren Worten: „Die Deutschen sind erfüllt von einem furchtbaren Hass und schrecklichen Rachedurst, ja ich möchte sagen: Blutdurst gegen die Hereros. Man hört in dieser Beziehung nichts als: ‚aufräumen, aufhängen, niederknallen bis auf den letzten Mann, kein Pardon‘ etc. Mir graut, wenn ich an die nächsten Monate denke.“ Womit er (leider) Recht behalten sollte.

Der Vernichtungsbefehl

Entsprechend dann auch der „Erlass“ den Generalleutnant Lothar von Trotha am sich heute jährenden 2. Oktober 1904 herausgab: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und keiner Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. / Der Große General des mächtigen Kaisers v. Trotha“

Und an seine Soldaten gewandt ließ er mitteilen: „Ich nehme mit Bestimmtheit an, dass dieser Erlass dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen.“ Die Truppen steigerten damit einhergehend ihren Offensivkrieg zum offenen Genozid. Ein Augenzeuge berichtete dazu: „Nach der Schlacht wurden alle Männer, Frauen und Kinder ohne Gnade getötet, die, ob verwundet oder nicht, den Deutschen in die Hände fielen. Dann verfolgten die Deutschen die übrigen, und alle Nachzügler am Wegesrand und im Sandfeld wurden niedergeschossen oder mit dem Bajonett niedergemacht. Die große Masse der Herero-Männer war unbewaffnet und konnte sich nicht wehren. Sie versuchten nur, mit ihrem Vieh davonzukommen.“

Die unverblümt emphatische Lobpreisung des Genozids durch den deutschen Generalstab

Der deutsche Generalstab pries Trothas militärische Taktik und Völkermord geradezu unverblümt: „Diese kühne Unternehmung zeigt die rücksichtslose Energie der deutschen Führung bei der Verfolgung des geschlagenen Feindes in glänzendem Lichte. Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke[-Wüste] sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes.“

„Nationale (deutsche) Würde“ und „wirtschaftliche Interessen“

Entsprechend hielten denn auch nach dem Völkermord zahlreiche Beteiligte und Profiteure die Gräueltaten hoch. Georg Maercker, Major der Schutztruppe von Deutsch-Südwestafrika, etwa resümierte 1907 vor der Deutschen Kolonialgesellschaft: „Vor dem Krieg waren wir lediglich die Geduldeten im Lande. Mit unsäglichem Hochmut und starkem Dünkel sahen die Eingeborenen auf uns herab. Dem musste ein Ende gemacht werden, denn das vertrug sich weder mit unserer nationalen Würde noch mit unseren wirtschaftlichen Interessen.“

Gegenstimmen der revolutionären Arbeiterbewegung: August Bebel, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

Ganz anders dagegen die prägenden Köpfe der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und August Bebel. Entsprechend nutzt Bebel bereits früh die Tribüne des Reichstags auch zur Generalabrechnung mit dem deutschen Kolonialismus, geißelte die Eroberungskriege sowie den Kolonialismus, die Kolonialverbrechen und die rassistische Kolonialpolitik in Afrika und forderte schon 1896 nachdrücklich den Abzug des Deutschen Reichs. Ebenso Karl Liebknecht, der die Verbrechen des deutschen Kaiserreichs im damaligen Deutsch-Südwestafrika und anderen Kolonien in seiner Anfang 1907 erschienen Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ auf das Entschiedenste anprangerte, den Vernichtungskrieg der deutschen Kolonialtruppen treffend als Massaker „zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen“ charakterisierte und eine klare antiimperialistische Position bezog. Auch August Bebel wiederum äußerte im Spätsommer 1911 nicht minder unmissverständlich über den Herero-Aufstand: „Dass das unterdrückte, ausgebeutete, geknechtete Volk zur Empörung griff, war sein gutes Recht. Es war ihr Heimatland, ihr Vaterland, das die Hereros gegen fremde Eroberer zu verteidigen suchten.“ Rosa Luxemburg ging noch einen Schritt weiter und kritisierte mit Nachdruck die gleichzeitig weitgehend obwaltende außerparlamentarische Untätigkeit der Sozialdemokratie gegen den deutschen Kolonialismus. Demgegenüber galt es für sie, auch auf den Straßen, in den Fabriken und auf den Verkehrslinien „das Fazit zu ziehen“.

Mühselige Aufarbeitung der deutschen Kolonialgräuel und des Genozids

Über Jahrzehnte ignoriert, allenfalls als „trauriges Ereignis“ oder „dunkles Kapitel“ in der deutschen Geschichte abgetan, begann die schleppende Aufarbeitung der Kolonialgräuel und des Genozids an den Herrero und Nama in Westdeutschland erst nach über 100 Jahren. Dabei, so Anke Schwarzer, „waren die Ereignisse im Deutschen Reich keineswegs geheim gehalten worden. Mit bemerkenswerter Unverblümtheit wurde der Krieg gegen die Herero der damaligen Öffentlichkeit präsentiert. Postkarten, die Gefangene in Ketter, Lager- und Hinrichtungsszenen zeigten, wurden hergestellt. Auch gibt es Bilder von Hererofrauen, die mit Glasscherben die Schädel ihrer toten Verwandten säubern mussten, damit diese in das Pathologische Institut Berlin geschickt werden konnten.“ Zu alledem flutete eine ebenso ausgedehnte wie erfolgreiche rassistisch-koloniale Reise- und Memoirenliteratur geradezu den deutschen Markt.

Das nur ein Jahr später stattgefundene deutsche Kolonialmassaker im Süden Tansanias wiederum, ist dem öffentlichen Bewusstsein selbst heute noch weitgehend unbekannt. „1905 schlugen die deutschen Truppen“, so Jörg Kronauer zudem das damalige Wüten in Deutsch-Ostafrika in Erinnerung rufend, „einen breit getragenen Aufstand im Maji-Maji-Krieg nieder. Ihre ‚Strategie der verbrannten Erde‘ hat in Ostafrika sogar noch mehr Menschen das Leben gekostet als der Genozid in Deutsch-Südwest. Genannt wird heute die Zahl 180.000, der tansanische Historiker Gilbert Gwassa geht sogar von 250.000 bis 300.000 Todesopfern aus. Das wäre ein Drittel der Gesamtbevölkerung im damaligen Kriegsgebiet.“

„Das Fazit ziehen“ (Rosa Luxemburg)

Bereits für Karl Marx, der schon in jungen Jahren die „Barbarei“ des Kolonialsystems anprangerte und in der Sklaverei den (frühen) „Angelpunkt der bürgerlichen Industrie“ sowie des „Welthandels“ erblickte und „die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“ als dem kapitalistischen System immanente „Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation“ bezeichnete, folgt diesen „auf dem Fuß … der Handelskrieg der europäischen Nation, mit dem Erdrund als Schauplatz.“ Auf nicht zuletzt diese, unter objektiv fortgeschrittenerer Situation später von Lenin vertiefte Einsichten, geht auch deren radikal neuer Gedanke (mit) zurück: Der Lage der Unterdrückten wird nicht von oben und außen abgeholfen werden, sondern sie selbst sind das Subjekt der Umgestaltung. Und dieser Gedanke der revolutionären Subjektivität gilt nicht minder auch für die unterdrückten Völker. Denn, um es mit Gerd Schumann zu sagen, „die koloniale Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“ – aber im entschiedenen Kampf und internationaler Solidarität der Arbeitenden, Subalternen und unterdrückten Völker zu überwinden.

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