Julian Assange – die „Westliche Wertegemeinschaft“ & die Guillotinierung der Pressefreiheit

Vor kurzem, am 6. Juni, lehnte der Londoner High Court Julian Assanges Berufung gegen dessen geplante Auslieferung in die USA ab. Der seit seinen Enthüllungen über die Kriegsverbrechen und das Folterregime der US-Army im Irak und in Afghanistan sowie über das US-Schandmal Guantánamo von Washington unerbittlich verfolgte Investigativ-Journalist und Wikileaks-Gründer, steht nach seinem vorübergehenden Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London (2012 bis 2019) und anschließenden Verhaftung und Inhaftierung in Großbritannien nunmehr unmittelbar vor der Auslieferung an die Vereinigten Staaten, wo ihm bis zu 175 Jahre Haft drohen. Annähernd zeitgleich erschien gerade der erste Bericht der UN-Sonderberichterstatterin Fionnuala Ní Aoláin über Guantánamo: „grausam, unmenschlich und entwürdigend“. Inhaftiert ohne Anklage und Rechtsstatus, grausame und jahrelange Folter, Waterboarding, sexuelle Misshandlungen und Demütigungen, Schlaf- und Ernährungsentzug, keine Kontakte zu Mithäftlingen oder Familie, kein Besuchsrecht von Anwälten – ein rechtsfreier Raum, mit radikal ausgelöschtem rechtlichen Status der Inhaftierten (G. Agamben).

US-Schreckens- und Folterlager Guantánamo

Aber gerade auch die Enthüllungen zum US-Schreckenslagers Guantánamo mit seinen aus aller Welt verschleppten Insassen – dem bedrückenden Symbol des US-Zivilisationsbruchs der Gegenwart und der unsäglichenMissachtung elementarster Menschenrechte –, sowie der Anordnung des Weißen Hauses dazu, werden Assange von„God‘s Own Country“ und dessen exzeptionalistischen Anspruch auf eine globale „zeitlose Führungsmission“ als die „eine unverzichtbare Nation“  (Bill Clinton), „von Gott auserwählt und verpflichtet … ein Modell für die Welt zu sein“ (George W. Bush), nicht verziehen.„Das Neue an der ,Anordnung‘ von Präsident Bush [für die unbeschränkte Inhaftnahme in Guantanamo, Anm.]“ war, um das Ungeheuerliche dieser US-präsidialen Verordnung mit Giorgio Agamben kurz in Erinnerung zu rufen, „dass sie den rechtlichen Status dieser Individuen radikal auslöscht und damit gleichzeitig Wesen hervorbringt, die juristisch weder eingeordnet noch benannt werden können.“ Sie sind weder Gefangene noch Angeklagte, sondern ‚bloß‘ „detainees“, in Gewahrsam Genommene in einem „rechtsfreien Raum“, denen buchstäblich jegliche Rechte verwehrt werden (sowohl jene ziviler Gefangenen wie auch jene von Kriegsgefangenen), die mithin einer rein faktischen Herrschaft unterworfen sind, einer unbegrenzten barbarischen Haft ohne jede rechtliche Kontrolle.

Während das US-Folterlager Guantánamo entgegen Obamas Ankündigung 2008 bis heute nicht geschlossen wurde, gilt Washington Assanges Courage, Dokumentationen dieser ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen im US-Schreckens- und Folger-Gefangenlager einer breiten Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben, demgegenüber bis heute als „Hochverrat“. Entsprechend dieser unerträglichen Selbstgerechtigkeit sprach der amtierende US-Präsident Joe Biden am vorgestrigen „Internationalen Tag zur Unterstützung von Folteropfern“ denn auch lieber über die „entsetzliche Brutalität durch Mitglieder der russischen Streitkräfte“ als über Guantánamo und das weltweite US-Lagersystem an Geheim- und Foltergefängnissen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty und Investigativ-JournalistInnen haben mit ihren Untersuchungen ja schon lange aufgedeckt, dass die CIA ein globales Netz dieser ‚Black Sites‘ unterhält – darunter übrigens auch in diversen Satellitenländern der ach so „wertebasierten“ EU, wie etwa in Polen, Rumänien oder Litauen.

Enthüllung der US-Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen im 8-jährigen Irak- und 20-jährigen Afghanistankrieg

Noch weniger verziehen von den Washingtoner und westlichen Kriegsherren und Militärs des „kollektiven Wertewestens“ allerdings wird ihm, gerade auch unter den Vorzeichen der Gegenwart, unter anderem seine Dokumentation der kaltblütigen Ermordung irakischer Zivilisten, darunter zweier Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters, aus einem Apache-Kampfhubschrauber heraus und sich dabei für ihre Treffer gegenseitig gratulierend.

Das ‚Verbrechen‘, dessen Assange beschuldigt wird und auf das ihm bis zu besagten 175 Jahre Haft drohen, liegt denn auch in der couragierten Aufdeckung von US-Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen im 8-Jährigen Irak- und 20-jährigen Afghanistankrieg, wie etwa genanntem von Scharfschützen wie in einem Videospiel massenhaft ‚abgeknallten‘ Zivilisten in Bagdad oder der Enthüllung von US-amerikanischen Erniedrigungs- und Folterpraktiken in beispielsweise Abu Ghraib. Daher auch die gnadenlose Hatz auf den Störenfried Assange und dessen Odyssee.

Gouverneur Mike Huckabee: „Alles außer einer Hinrichtung ist eine zu milde Strafe“ für Assange

Würden seine Enthüllungen nicht die Kriegsverbrechen der Streitkräfte des US-Welt-Sheriffs in ihrem beinahe ein Jahrzehnt währenden Irak-Krieg und ihrem zwanzigjährigen Afghanistan-Krieg betreffen, wartete auf ihn wohl der renommierte Pulitzer-Preis (der Oscar des Journalismus) oder mindestens weltweite Medieneinladungen zu den besten Sendezeiten bzw. honorige Jobangebote – so aber mutmaßlich lebenslange Isolationshaft ohne Kontakt nach außen. Oder auch die Hinrichtung, wie sie der ehemalige Gouverneur von Arkansas Mike Huckabee auch öffentlich fordert: „Alles außer einer Hinrichtung ist eine zu milde Strafe“ – und welche die CIA unter Mike Pompeo bekanntlich auch in Form einer Spezialoperation in Erwägung zog.

„Das wirklich Erschreckende an diesem Fall: Mächtige können straflos über Leichen gehen“ (UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer)

„Die freie Presse ist ein Pfeiler – vielleicht sogar der Pfeiler – einer freien Gesellschaft“, klagte US-Präsident Joe Biden unlängst im Zusammenhang des der Spionage bezichtigten Wall Street Korrespondenten Evan Gershkovich. Und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell  „Journalisten müssen ihren Beruf frei ausüben können und verdienen Schutz“. Jedenfalls, solange sie devot als „embedded journalists“ agieren.

„Journalismus ist kein Verbrechen“, twitterte auch US-Außenminister Antony Blinken jüngst – und die politischen Eliten aus den westlichen Hauptstädten folgten ihm mit Tweets auf den Fuß. Gemeint war freilich nicht der im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh (dem „britischen Guantánamo“), einsitzende Julian Assange. Sondern ebenfalls der Wall Street Journal Korrespondent Evan Gershkovich, dem in Russland Spionage vorgeworfen wird, da er mutmaßlich an Geheiminformationen über eine russische Waffenfabrik zu gelangen versuchte. Dass und wie windig diese Anklage auch sein mag – die Doppelmoral und gespielten Entrüstungen triefen nur umso deutlicher aus dem „Journalismus ist kein Verbrechen“ unter den Sternenbannern der USA und EU-Europas. Zumal Assange noch nicht einmal vorgeworfen wird, je für einen anderen Staat oder ausländischen Geheimdienst gearbeitet zu haben.

Und während UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer seiner Erschütterung über den „Fall Assange“ offen Ausdruck verleiht: „Das wirklich Erschreckende an diesem Fall ist der rechtsfreie Raum, der sich entwickelt hat: Mächtige können straflos über Leichen gehen … Es wird ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen“, zeigen Figuren wie die ansonsten geradezu manisch mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt tourende deutsche Außenministerin Annalena Baerbock offen Verständnis für die „berechtigten Sicherheitsinteressen eines Staates“ – also solange es sich um einen transatlantischen Partner handelt.

Während mithin gegen andere Länder als „Uncle Sam“ alle Register gezogen würden, kollaboriert die „westliche Wertegemeinschaft“ in der dreckigen Hetzjagd auf Assange vielmehr noch ruchlos mit dem „transatlantischen Verbündeten“ oder ducken sich „wertebasierte“ Figuren des Westens mit Redeschablonen weg. Für die Menschenrechts- und Journalistenorganisationen sowie demokratische Öffentlichkeit hingegen ist der Fall Assange nicht nur die „aktuell bedeutendste Debatte um die Pressefreiheit weltweit“ (jungeWelt), sondern zugleich von unaufschiebbarer Brisanz. Für die Linke wiederum, so lässt sich hinzufügen, ist der Fall Assange eine Feuerprobe für letzte verbliebene Reste an autonomen Bewusstsein. Alles andere als der Stopp seiner Auslieferung an Washington und seine sofortige Freilassung markierte einen historischen Skandal. Pointierter noch, wie es mit Heribert Prantl selbst das kritische Aushängeschild der SZ auf den Punkt brachte: „Eine Auslieferung von Assange an die USA wird maximale abschreckende Kraft haben: Sie guillotiniert die Pressefreiheit.“

Oder wie heißt es bei Bert Brecht: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die anderen sind im Licht / Und man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Daher auch die unerbittliche Verfolgung Julian Assanges als zur Abschreckung gedachtes Exempel an alle, die Licht ins Dunkel der Verbrechen „des Westens“ lassen wollen. Denn, so nochmals Nils Melzer: „Obwohl WikiLeaks schwerste Verbrechen bewiesen hatte, wurde bisher kein einziges davon verfolgt oder wiedergutgemacht. Stattdessen wurde Assange als Vergewaltiger, Hacker, Spion und Hightech-Terrorist verschrien, der ‚Blut an seinen Händen‘ habe“ und sich ‚Recht und Gerechtigkeit‘ entziehe. Und die aktiven und passiven Lakaien und Lakeinnen legen allesamt mit Hand an die Guillotinierung der Pressefreiheit an.

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