Karl Nehammer auf den Spuren Marie Antoinettes: Wo bleibt der Sturm auf die Bastille?

Wenngleich historisch gut 230 Jahre dazwischenliegen, mit seiner Denkhaltung im bekanntgewordenen, unsäglichen Video von einer ÖVP-Veranstaltung in Hallein, bewegt sich Kanzler Nehammer geradewegs auf den bekannten Spuren Marie Antoinettes, Österreichs „Königin der Franzosen“ und Gemahlin des in der Französischen Revolution gestürzten Ludwig des XVI. Einzig, dass er direkter Regent ist und die seinerzeitigen Kuchenkrümel durch einen Hamburger und Pommes bei McDonalds ausgetauscht hat. Ansonsten trifft auch auf ihn – gelinde gesagt –, das Urteil Eric Hobsbawms auf seine „Vordenkerin“ zu: „hirnlos und unverantwortlich“.

Und das reicht bis in sein zynisch-verächtliches Bild arbeitender Frauen, das sich gleichfalls mit den Abfälligkeiten einer Marie Antoinette über die Sansculottinnen des damaligen Frankreichs messen kann. Freilich, diese antworteten – nicht zuletzt unter Führung Claire Lacombe und ihre Mitstreiterin Pauline Léon, oder auch Théophile Leclerc als Bewegung der weiblichen Sansculottinnen in der Revolution – auf ihre Lage mit der Großen Französischen Revolution, einem „politischen Brotpreis“ sowie der Guillotine. Letzteres gehört nach Sturz des Absolutismus heutigentags natürlich nicht mehr zum Bestandteil des Werkzeugkastens gegen Armut in Europa. Aber der unvergessene und erfolgreiche Zug zig-tausender Frauen nach Versailles mit ihrer Forderung nach Brot bis hin zur Abdankung des Königs, leuchtet heute wie ehedem als Antwort durch die Zeiten.

Denn, ‚unser‘ kapitalistisches Wirtschaftssystem ist durch massive Ungleichheit geprägt, sowohl in der Einkommens-, besonders aber in der Vermögensverteilung. Während einige im Überfluss schwelgen, fehlt es anderen auch in Österreich an Vielem. In der Wirtschafts- und Corona-Krise sowie seit Langem grassierenden Hochinflationszeit ist die Armut nochmals rasant angeschwollen. Global, und auch in Österreich. Aufgrund der aktuellen Daten der Statistik Austria läuten denn – bis auf Figuren wie nicht zuletzt Nehammer und Konsorten, sowie die herrschenden Kreise und Wirtschaftsvertreter – auch regelrecht die Alarmglocken. Dass Nehammer und Konsorten demgegenüber vielmehr „die Linke“ das Schreckgespenst ist, fügt sich seinerseits historisch nahtlos ein. Der Begriff entsprang nämlich der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung und bezeichnete jene, die konsequent mit dem Ancien Régime aufzuräumen auf ihre Fahnen geschrieben hatten, während die königstreue Rechte und offene Konterrevolution den Hungerrevolten, Maßnahmen im Interesse der Massen und dem gesellschaftlichen Umwälzungsprozess zu stoppen bzw. den Garaus zu machen trachtete. Konkret entsprang die Bezeichnung dann dem Streit um die Frage, ob die Macht an die gewählte Nationalversammlung, das Parlament, übergehen solle oder realiter in den Händen Ludwig des XVI. verbleiben sollte. Oder im Spiegel der Prinzipien und Programme: monarchisches Erbfolgeprinzip mit königlichen Vollmachten oder Herrschaft des Volkes.

Armut hat viele Gesichter, deren Gemeinsames das Fehlen wirtschaftlicher Ressourcen ist, um an den Konsumaktivitäten der Gesellschaft teilzunehmen. Die Ursachen von Armut sind ebenso vielfältig. Sie sind geprägt von der konjunkturabhängigen, strukturellen oder saisonalen Situation am Arbeitsmarkt – von Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit, ganz- oder unterjähriger Beschäftigung, Niedriglohn- und/oder Teilzeitbeschäftigung resp. heute vollends entgrenzter „Zwangs-“Teilzeit sowie wogender Prekarisierung und „Working poor“, flankiert um fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Entsprechend spielen denn auch Geschlecht, Alter, Gesundheit und die Haushaltszusammensetzung eine wesentliche Rolle, aber auch die Herkunft – sozial sowie regional. So zählen zu den Risikohaushalten u. a. alleinerziehende Frauen, kinderreiche Haushalte, alleinlebende Frauen und Männer ohne Pension, alleinlebende Frauen mit Pension, Langzeitarbeitslose und Nicht-EU/EFTA-Staatsbürger:innen. Während längere Phasen von Arbeitslosigkeit, die Ausweitung der Teilzeitarbeit oder auch Sozialversicherungsbetrug zahlreicher Unternehmen (etwa durch Anmeldung auf geringerer Stundenbasis mit oder ohne Schwarzgeldzahlung) eine tickende Zeitbombe hinsichtlich Altersarmut darstellen, führen die gegenwärtigen Inflationsraten schon jetzt bei mehr und mehr Haushalten zu Zahlungsschwierigkeiten und ziehen Armutsgefährdung und Verarmung immer weitere Kreise.

Armut ist ein vielschichtiges Phänomen

Im Jahr 2022 waren bereits über 1,3 Mio. in Österreich lebende Menschen armutsgefährdet. Damit war fast jede siebente Person betroffen. Nichts weniger besagen die vielfach so leicht über die Lippen kommenden 14,8%.

Eine reine Konzentration auf derartige relative Armutsschranken, die sich am Median oder am durchschnittlichen Haushaltseinkommen orientieren, greift indes aber noch zu kurz und kann unterschiedliche Facetten der Armutsproblematik nicht abbilden.

Daher müssen u.a. vielmehr absolute Armutsschranken das Bild noch ergänzen, die die Kosten für Grundbedürfnisse abbilden. Materielle Deprivation* erhebt die Nicht-Leistbarkeit von mindestens 3 von 9 Grundbedürfnissen. Haushalte können sich demnach beispielsweise nicht leisten, regelmäßige Zahlungen (Miete, Betriebskosten, Kreditrückzahlungen, …) rechtzeitig zu begleichen, unerwartete Ausgaben für Reparaturen von 1.300 Euro oder mehr zu finanzieren, die Wohnung angemessen warm zu halten, eine Waschmaschine, einen Fernseher oder ein Telefon/Handy zu besitzen. Als erheblich materiell und sozial depriviert gelten Personen ab 16 Jahren, wenn sieben von 13 Merkmalen auf Haushalts- und Personenebene erfüllt sind. Dazu zählen zu den oben erwähnten Merkmalen u. a. auch die finanzielle Nicht-Leistbarkeit abgenutzte Kleidung zu ersetzen, zwei Paar passende Schuhe zu besitzen, jede Woche einen kleinen Beitrag für sich selbst auszugeben oder einmal im Monat Freund:innen oder Familie zum Essen/Trinken zu treffen.

Als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet gelten Personen, deren gewichtetes Haushaltseinkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt, die erheblich materiell und sozial depriviert (benachteiligt, sozial ausgegrenzt, …) sind oder in einem Haushalt mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität (weniger als 20 % im Laufe eines Jahres) leben. Menschen können demnach auch mehrfach ausgrenzungsgefährdet sein. Auch die Wohnsituation ist zu berücksichtigen, etwa ob die Wohnung überbelegt ist, kein Bad, keine Dusche und/oder kein WC in der Wohnung vorhanden sind oder Schimmel oder Feuchtigkeit Einzug gehalten haben. Darüber hinaus ist auch die Dauerhaftigkeit von Armut zu berücksichtigen, ob sie beispielsweise nur zeitweilig oder dauerhaft ist.

Rasanter Anstieg in absolute Armutslagen

Über 200.000 Menschen im Land – deutlich mehr als noch 2021 –, allen voran alleinerziehende Frauen, konnten sich im Vorjahr überhaupt alltägliche Dinge wie etwa Kleidung oder Schuhe, neue Möbel oder eine angemessen warme Wohnung nicht mehr leisten, ganz zu schweigen von einem Urlaub. Damit kletterte die Zahl der „akut Armen“ in Österreich im letzten Jahr um eklatante 41.000 weitere Personen von rund 157.000 auf 201.000 Menschen in „absoluten Armutslagen“.

Dabei verhieß die schwarz-grüne Koalition in ihrem Regierungsübereinkommen als „Leuchtturmprojekt“ noch großspurig eine Halbierung der Armut – mit „besonderem Augenmerk“ auf die „Bekämpfung der Kinderarmut“. 

Kinderarmut in Österreich

Entgegen dem „besonderen Augenmerk“ des Koalitionspapiers sind in Österreich heute allerdings 353.000 Kinder und Jugendliche, und damit mehr als 20%, von Armut betroffen. 36.000 können sich keine tägliche warme Mahlzeit mehr leisten.Sie wachsen in Haushalten auf, die es sich nicht leisten können, unerwartete Ausgaben zu tätigen. Über 100.000 Heranwachsende bzw. deren Eltern können aus finanziellen Gründen nicht wenigstens einmal im Monat FreundInnen oder Verwandte einladen. Mit der Covid-19-Krise und Hochinflationswelle hat sich die Situation nochmals zusätzlich verschärft. Zwei der unmittelbaren Folgen für die betroffenen Kinder bestehen etwa in ihrer zunehmenden sozialen Isolation und früherem Ausscheiden aus dem Bildungssystem. Denn, so wie sich von Armut betroffene Familien vielfach Nachhilfeunterricht schlicht nicht leisten können, so vielfach auch soziale Alltäglichkeiten wie beispielsweise die Einladung anderer Kinder zu Geburtstagsfeiern nicht. Was umgekehrt oftmals wiederum dazu führt, dass auch die eigenen Kinder nicht zu Geburtstagen eingeladen werden. Ähnlich wirken auch Barrieren in Sportvereinen (von Mitgliedsbeiträgen bis hin zu unleistbaren Sportgeräten und Equipment). Die Liste der Folgen ließe sich noch lange fortsetzen. Dagegen „McMenüs“ und „McJobs“ anzuziehen, ist an verächtlicher Dreistigkeit kaum mehr zu überbieten.

Was tun?

Um dieser Erosion der sozialen Verhältnisse und der immer weiteren Kreise ziehenden Armutsgefährdung und Armut entgegenzuwirken, bedarf es einer kraftvollen Lohnoffensive, eines Mindestlohns von 2.000 Euro, der Anhebung des Arbeitslosengeldes, der Mindestsicherung und der Pensionen auf ein armutsfestes Niveau, eines Um- und Ausbaus des Sozialsystems und der öffentlichen Infrastruktur als Ganzes sowie einer verteilungspolitischen Schließung der horrenden Kluft zwischen Arm und Reich. Dazu gilt es prekären Beschäftigungsverhältnissen den Kampf anzusagen, v.a. unfreiwilliger Teilzeit, unterjähriger Beschäftigung und dem Niedriglohnsektor; Sozialversicherungsbetrug muss verhindert werden. Mit einer weitreichenden Arbeitszeitverkürzung bei vollem Personal- und Lohnausgleich und gesellschaftlichen Umverteilung der Arbeit auf alle, ließe sich die gesellschaftlich notwendige und ökologisch verträgliche Arbeit gleichmäßig aufteilen. Zudem braucht es dringen sozial effektive Mietobergrenzen und spezielle soziale Stützungsprogramme für die Armutsgefährdeten und Ärmsten.

Ob und wieweit sie sich dies gegen Regierung und Kapital allerdings durchsetzen lässt, wird sich letztlich an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und realen Kämpfen entscheiden. Und in diesem Konflikt ist Marxens Wort und Einsicht fundamental: Armut und Reichtum drücken eine bloß abstrakte Beziehung aus, sofern nicht die sozialen Kräfte herausgestellt werden, die ihrem Verhältnis in der Realität zugrunde liegen. Denn „der Gegensatz“ von Arm und Reich „ist ein noch indifferenter, nicht in seiner tätigen Beziehung, seinem inneren Verhältnis, noch nicht als Widerspruch gefaßter Gegensatz, solange er nicht als der Gegensatz der Arbeit und des Kapitals begriffen wird“ und im Klassenkampf entsprechend ausgetragen wird. Der seinerzeitige Dritte Stand schritt mit dem Sturm auf die Bastille denn auch zu dessen Austrag.

*Deprivation (lat. privare „berauben“) bezeichnet, vereinfacht gesagt, messbare materielle Benachteiligungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Existenz und Position

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