„Kobanê Prozess“: Ankaras Rachejustiz gegen den kurdischen Freiheitkampf

Mit teils drakonischen Strafen endete am Donnerstag ein seit drei Jahren im Gefängniskomplex von Sincan in der türkischen Hauptstadt Ankara laufender politischer Schauprozess gegen führende Persönlichkeiten der kurdischen Nationalbewegung und der sozialistischen Linken der Türkei – so Nick Brauns in der aktuellen jW. (ausführlich zum türkischen Schau- und Racheprozess gegen den ehemaligen HDP-Vorstand und weitere Linke). Am Samstag finden Proteste gegen diese Schandurteile der türkischen Klassen- und Rachejustiz statt.

Die beiden bekannten, seit November 2016 inhaftierten früheren HDP-Kovorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ wurden in dieser Prozess-Farce gegen insgesamt 108 kurdische und linke Politiker und zu Rekordstrafen von insgesamt 42 beziehungsweise 32 Jahren Haft verurteilt. Figen Yüksekdağ wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, „Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, Terrorpropaganda; Selahattin Demirtaş 20 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, viereinhalb Jahre Haft wegen „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“, zweieinhalb Jahre Haft wegen „Öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ im Zusammenhang mit einer Rede an Newroz 2016, sowie vier weitere Jahre wegen „Terrorpropaganda“ in sieben Fällen. Die Gesamtstrafe gegen den früheren HDP-Vorsitzenden beläuft sich damit auf 42 Jahre Haft.

Hintergrund des Kobanê-Verfahrens

In dem seit April 2021 andauernden Kobanê-Verfahren wurden insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Auslöser des Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Rojava auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung und Justiz legt alle Taten der damaligen HDP-Führung und der Partei als Ganzes zur Last.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Im Dezember 2022 stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert dieses Urteil und auch alle anderen Entscheidungen des EGMR sowie des Ministerkomitees des Europarates im Zusammenhang mit den damaligen HDP-Abgeordneten.

(ANF)

Ähnliche Beiträge

Gefällt dir dieser Beitrag?

Via Facebook teilen
Via Twitter teilen
Via E-Mail teilen
Via Pinterest teilen