Max Zirngast: Ich bin frei, andere sind es noch nicht

Von Max Zirngast / via Max Zirngast Solidaritätskampagne

Am 11. September 2018 wurde ich im Zuge einer frühmorgendlichen Polizeirazzia zum selben Zeitpunkt wie Mithatcan Türetken, Hatice Göz und Burçin Tekdemir festgenommen. Exakt ein Jahr danach, beim zweiten Gerichtstermin am 11. September 2019, wurden wir vier vom Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation“ freigesprochen. Nach der Polizeirazzia hatten wir in etwa dreieinhalb Monate im Gefängnis verbracht; danach wurden wir unter Auflagen, unter anderem einem Ausreiseverbot, entlassen. Auch der erste Prozesstermin am 11. April 2019 verlief relativ ereignislos.

Die Entscheidung, uns nun freizusprechen, war durchaus überraschend. Prozesse dieser Art zogen sich in den letzten Jahren in der Türkei oft jahrelang über viele Gerichtstermine hin. In diesem Sinne erhoffte ich mir die Aufhebung des Ausreiseverbots, aber der Staatsanwalt entschied sich direkt nach Beginn des Prozesstermins dazu, sein Schlussplädoyer zu halten und den Freispruch für alle Angeklagten zu fordern. Und zwar aus Mangel an Beweisgründen. Freilich, wie auch: Es war der Anklage seit der Erstellung der Anklageschrift kein Beweis im eigentliche Sinne hinzugefügt worden. Der Informationsstand war also der gleiche wie bei unserer Entlassung und beim ersten Gerichtstermin.

Die Politik unseres Freispruchs

Warum also ging das alles so plötzlich? Es ist wohl von einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren auszugehen. Einerseits ist da die internationale Dimension, das heißt, die Aufmerksamkeit der österreichischen und internationalen Medien und Behörden, die unseren Fall beobachteten und in der Öffentlichkeit hielten (und eventuell mehr machten, als nur zu beobachten).

Es ist aber auch völlig klar, dass die Staatsbürgerschaft alleine nicht für den Freispruch gesorgt hat. In den Tagen nach unserem Freispruch wurden sowohl ein österreichischer Staatsbürger wie auch eine deutsche Staatsbürgerin aus verschiedenen Gründen in Zusammenhang mit „Terror“ in der Türkei rechtskräftig zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Im Unterschied zu mir hatten sie keine europäischen Namen und die bundesdeutsche beziehungsweise österreichische Öffentlichkeit war an ihren Fällen wenig interessiert. Die breite Solidaritätskampagne für mich von Wien bis New York hatte einen großen Anteil daran, meinen Fall in die Medien und auf die Tagesordnung der Behörden zu bringen und Druck für unsere Freilassung zu erzeugen. Das ist von großer Bedeutung, weil es eines der Potenziale von internationaler Solidarität deutlich macht.

Der Journalist Max Zirngast

Neben der internationalen Situation ist aber auch die innenpolitische Lage der Türkei von großer Bedeutung. Ich meine sogar, dass sie in vielerlei Hinsicht wichtiger ist als die internationalen Beziehungen. Es gibt im Westen die Tendenz, die eigene Bedeutung hinsichtlich der Türkei zu überschätzen. Selbstverständlich ist die Türkei ein Land, dass sich auf weltpolitischer Ebene immer noch in Beziehung zu den Großmächten (insbesondere USA, EU, Russland) positioniert, aber vor allem auf regionaler Ebene teilweise auch eigene Interessen platzieren kann. Und wie in allen anderen Ländern gilt auch in der Türkei, dass es hier eine Dialektik von Innen- und Außenpolitik gibt.

Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 und den darauffolgenden Entlassungs- und Verhaftungswellen in den Staatsapparaten befindet sich der türkische Staat in einer Krise, die zwar teilweise gelöst werden konnte, aber immer noch Gegenstand heftiger Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Staatsfraktionen ist. In der Justiz wurden zehntausende von Richter*innen und Staatsanwält*innen entlassen und sehr oft durch wenig qualifizierte Menschen ersetzt. Die ohnehin schon langsam arbeitende Justiz gerät seither immer tiefer in die Bredouille. Prozesse dauern ewig, die Gefängnisse sind überfüllt. Das ist auch der Grund, warum ein Justizreformpaket von der Regierung selbst auf die Tagesordnung gebracht wurde. Es braucht pragmatisch einfach eine Beschleunigung vieler Prozesse und teilweise auch Entlassungen aus dem Gefängnis, um die Institutionen zu erleichtern.

Die zweite wichtige innenpolitische Entwicklung der letzten Monate ist, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse und das politische Klima nach den Regionalwahlen Ende März und vor allem seit der Wahlwiederholung in Istanbul am 23. Juni 2019 verändert haben. Die Kräfte der Restauration versetzten der Regierung einen Schlag, verhielten sich danach aber eher passiv. So konnte die Regimeallianz ihre Kräfte teilweise wieder sammeln. Aber dennoch haben sich die Konflikte und Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen intensiviert; Friktionen innerhalb des Regimes wurden zu Brüchen: Mittlerweile sind wichtige Gründungs- und/oder Führungsfiguren der AKP wie Ali Babacan, Ahmet Davutoğlu und Abdullah Gül auf große Distanz zur AKP getreten oder haben sie sogar verlassen – ganz offensichtlich in der Absicht, eigene Parteien zu gründen.

Herrscht wieder die Demokratie in der Türkei?

Als Folge dieser beiden Entwicklungen kam es zu einigen durchaus positiven Gerichtsentscheidungen. Die Friedensakademiker*innen werden mittlerweile alle freigesprochen, teilweise ohne Gerichtstermin. Es ist eben kein Zufall, dass der türkische Verfassungsgerichtshof erst Ende Juli 2019 mit einer sehr knappen Mehrheit von einer Stimme entschied, dass die Verfahren gegen jene eine Verletzung ihrer Meinungsfreiheit darstellten. Die Gerichte wollen sich diesen Prozessen ganz offensichtlich nicht mehr stellen. Zum Anderen aber wurden der CHP-Vorsitzenden in Istanbul, Canan Kaftancıoğlu fast zehn Jahre Haft für sechs Jahre alte Tweets aufgebrummt – ohne Aufschub, ohne Bewährung. Aber sie wurde trotzdem noch nicht in den Knast gesteckt. Das zeigt gerade sehr schön die Grenzen der Macht des Regimes. Es reicht für das Urteil, aber nicht für die Vollstreckung. Es gibt aber gleichfalls auch keine Garantie dafür, dass es in ein paar Monaten nicht auch für die Vollstreckung reicht. Auch die Absetzung der HDP-Bürgermeister*innen der drei größten mehrheitlich kurdischen Städte der Türkei – Diyarbakır, Mardin, Van – am 19. August ist in diesem Gesamtzusammenhang zu sehen: Aufgrund der genannten innenpolitischen Veränderungen muss sich das Regime mit seiner Repressionswalze gerade auf jene Akteur*innen konzentrieren, die es als „hochgefährlich“ für die eigenen Stabilität wahrnimmt – wir und die Friedensakademiker*innen fallen derzeit wohl nicht in diese Kategorie. Nicht mehr – oder noch nicht wieder?

Protest am Volksstimmefest gegen die Repression gegen die HDP

Das ist genau der Clou an der momentanen Lage. Es gibt gleichzeitig positive wie auch negative Entwicklungen. Das liegt daran, dass eine aufgrund der von mir skizzierten innenpolitischen Umstände erzwungene Teilliberalisierung der Faschisierung stattfindet: teils von oben gesteuert, teils aber unkontrolliert und relativ eigenständig; die Grenzen sind hier nicht immer ganz klar. Klar ist allerdings: Selbst wenn die positiven Entwicklungen überwiegen sollten, dann gibt es unter den heute obwaltenden politischen Verhältnissen in der Türkei keine rechtliche und politische Garantie dafür, dass dies von Bestand ist. Nur eine institutionelle Absicherung, zum Beispiel mittels einer demokratischen Verfassung und einem Übergang zu einer grundlegend anderen politischen Kräftekonstellation könnte als ein genuiner Schritt in die richtige Richtung verstanden werden.

Die turbulente Zeit, in der sich die Türkei befindet, wird genau aufgrund dieser gleichzeitigen widersprüchlichen Tendenzen fortdauern. Die momentanen Machtkämpfe werden sich nicht so bald endgültig entscheiden.

Für mich persönlich und für alle freigesprochenen Kolleg*innen und ihre Freund*innen und Familien war das Urteil natürlich erfreulich. Aber es wäre eine Anmaßung aufgrund dieser bisher noch überschaubaren Anzahl positiver Urteile von einer Demokratisierung der Türkei zu sprechen, oder davon zu sprechen, dass dadurch der Rechtsstaat nun teilweise wieder hergestellt worden wäre. Eine erzwungene Teilliberalisierung eines sich faschisierenden Regimes ist eben etwas anderes als ein gut verankerter Rechtsstaat.

Ein schwieriges, aber kein verlorenes Jahr

Für mich persönlich und für meine Familie und meine Freund*innen war das vergangene Jahr ein schwieriges, aber kein verlorenes Jahr. Was der Staat mit Prozessen dieser Art beabsichtigt, ist genau das: dass „Zeit“ verloren geht und möglichst der Wille der Betroffenen gebrochen wird. Auch wenn den Verantwortlichen völlig klar ist und von Anfang an klar war, dass wir keine „Terroristen“ sind, so ging es trotzdem darum, uns zu bestrafen. Auch wenn die Beweislage keine rechtliche Strafe zuließ. Aufgrund unserer oppositionellen, sozialistischen Haltung und Aktivität – sei es nun schriftstellerischer oder politischer Art – wurden wir zur Zielscheibe dieser in der Türkei mittlerweile sehr üblichen Art von Schikane.

Soweit der Plan. Aber er funktionierte nicht. Weil wir nicht von unserer Haltung und Arbeit abgelassen haben. Wenn sie irgendwas erreicht haben, dann, dass unsere kollektive Arbeit und die internationale Solidarität gestärkt wurden. Wollten sie uns fertig machen, so haben wir uns miteinander aufgebaut. Wir – die drinnen Inhaftierten und die draußen sich Solidarisierenden – haben nicht mutlos die Köpfe gesenkt, Frust und Ärger in uns reingefressen, sind nicht an Ohnmacht verzweifelt, wie sie das wollten – sondern wir haben gegen ihre Willkür angekämpft und ein Netzwerk geschaffen, das uns stärkte. Wenn ihre Waffe die Gewalt ist, dann ist unsere die Solidarität.

Weitermachen

Wir dürfen nie und nirgendwo erwarten, dass die herrschenden Klassen und Fraktionen uns dafür loben, dass wir ihre Ordnung kritisieren und uns auch noch ein aufmunterndes „macht weiter so!“ dazu geben. Überall auf der Welt werden sie, manchmal auf nettere Art, manchmal auf weniger nette Art versuchen, unsere Arbeit zu sabotieren, zu subvertieren, zu kriminalisieren. Genau dagegen gilt es weiter zu machen, den Kampf für eine freie Welt und gegen die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur, gegen Patriarchat und Rassismus nicht aufzugeben.


Der Artikel ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des am 15. September im Jacobin Magazine erschienen Artikels von Max Zirngast „I Am Free – but Turkey Is Not“.

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