US-Imperialistik: Der „Zwischenfall von Tongking“ vor 60 Jahren & die maritimen „schwarze Schwäne“ in der US-Kriegsgeschichte

Der von den USA 1964 als Kriegsvorwand gegen Nordvietnam erfundene „Zwischenfall von Tongking“ gilt zu Recht als eine der dreistesten und skrupellosesten Lügen in den Annalen der imperialistischen Kriegslügen. Als „schwarzen Schwan“ wiederum bezeichnet man in der Ökonomie unvorhergesehene Ereignisse von enormen Auswirkungen. Was also war bzw. worin bestand die „Tongking-Provokation“? Und was hat es in einem kriegsgeschichtlich abgewandelten Sinn, mit maritimen „schwarzen Schwänen“ auf sich?

Die Eckdaten der Einbettung der historischen Kriegslüge des „Zwischenfalls von Tongking“ sind schnell in Erinnerung gerufen: Nach dem Partisanenwiderstand und der erfolgreichen Augustrevolution sowie der Kapitulation Japans und damit auch in Asien einhergehendem Ende des Zweiten Weltkriegs proklamierte der antiimperialistische Viet Minh unter Ho Chi Minh am 2. September 1945 die Demokratische Republik Vietnam und vietnamesische Unabhängigkeit. Die vietnamesische Unabhängigkeitserklärung stützte sich dabei bis in die Wortwahl und in Formulierungen hinein an die amerikanische von 1776, in deren Tradition sie sich verstand. Unmittelbar darauf verkündete indes die ehemalige, vom japanischen Tenno-Faschismus vorübergehend abgelöste, Kolonialmacht Frankreich die Wiedererrichtung ihres Kolonialregimes in Vietnam und entfesselte schließlich ab 1946 ihren schmutzigen, achtjährigen Kolonialkrieg gegen das vietnamesische Volk und seine Volksbefreiungsarmee. Mit der Niederlage der französischen Truppen bei Dien Bien Puh 1954 traten dann die – schon lange finanziell, mit zigtausenden Militärberatern und verdeckten Operationen involvierten – USA die Nachfolge Frankreichs an. „Mitte 1964 waren [schließlich] alle Versuche der USA gescheitert, ohne eigenes direktes militärisches Eingreifen das unter Bruch des Völkerrechts abgespaltene Südvietnam [unter dessen Diktatoren und Militärjunten] als antikommunistisches Bollwerk in Indochina zu zementieren“, um es mit Hellmut Kapfenbergers empfehlenswerten Rückblick auf die Ereignisse Anfang August 1964 in der aktuellen jW auf den Punkt zu bringen.

Der fingierte „Zwischenfall von Tongking“

Als Vorwand zur nunmehrigen Übernahme der Rolle als offene Kriegspartei und eines direkten Kriegseintritts fingierte Washington im August 1964 dann den berühmt-berüchtigten „Zwischenfall von Tongking“ und verbreitete, nordvietnamesische Torpedoboote hätten aus heiterem Himmel im Südchinesischen Meer zwei US-Zerstörer – die „Maddox“ und die „Turner Joe“ – angegriffen. Daran war, wie der spätere Bader-Report des außenpolitischen Senatsausschusses und weitere freigegebene Pentagon-Papiere belegen, aber auch wirklich alles und jedes erstunken und erlogen bzw. ins Gegenteil verkehrt. Der angebliche Torpedoangriff erwies sich in späteren Nachforschungen als pure Kriegslüge. Entsprechend wiesen die beiden angeblich in den ersten Augusttagen mit Torpedos beschossenen Zerstörer auch keinerlei Beschädigungen auf und gab es auch keinerlei Verletzte unter den Besatzungen. Die beiden US-Zerstörer schipperten gleichzeitig auch nicht in internationalen Gewässern, sondern demgegenüber vielmehr mit dem militärischen Auftrag die nordvietnamesischen Radarsysteme zu orten in nordvietnamesischen Hoheitsgewässern. Oder wie sich der seinerzeitige Senator und spätere US-Vizepräsident Al Gore einmal ausdrückte, haben sie „unmittelbar vor der (nordvietnamesischen) Küste die Wellen gepflügt“. (Im Detail zum „Zwischenfall“ siehe Kapfenberger)

Oder kurz und bündig mit den späteren Worten des damals amtierenden US-Verteidigungsministers Robert McNamara: „Die Wahrheit unterscheidet sich völlig von dem, was der Präsident und der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten feierlich gegenüber dem amerikanischen Volk und der Weltöffentlichkeit erklärt haben.“ Bei ihrer Darstellung handelte es sich vielmehr „um eine schamlos zynische Erfindung, denn am Tag und in der Nacht des 4. August 1964 befand sich kein Kriegsschiff der Demokratischen Republik Vietnam in der Zone, wo – nach der amerikanischen Version – die amerikanischen Zerstörer ›zum zweiten Mal von nordvietnamesischen Torpedoschnellbooten angegriffen‹ worden seien“.

Die bereits Monate davor geplante Inszenierung gab den USA freilich nichts desto trotz den gewünschten Kriegsvorwand. Nachdem das Weiße Haus – nach diesem von der CIA, dem NSA und dem US-Marinegeheimdienst geschriebenen Drehbuch – Nordvietnam des „ungeheuerlichen Aggressionsakt in internationalen Gewässern“ anklagte, gab der die Provokation in Auftrag gegeben habende Präsident Lyndon B. Johnson den Befehl zu „Vergeltungsschlägen“ und begannen die USA ihren direkten Aggressionskrieg, blutigen Terror und mörderischen Luft- und Napalm-Krieg gegen Vietnam.

Vier Jahre und sich in Vietnams Himmel aufstapelnder Leichenhaufen später, äußerte sich 1968 dann wiederum Johnson-Nachfolger, US-Präsident Richard Nixon, von einer weiteren Seite im inneren US-Machtzirkel ebenso freimütig wie alles sagend hinsichtlich der Gemetzel in Vietnam, diesem „verschissenen Land“ voller „Bastarde“: Das juckt doch nur Linke, Außenseiter und Nestbeschmutzer – „Diese kleinen, braunen Leute, so weit weg, wir kennen sie doch gar nicht.“

„USS Main“ 1898 – „Lusitania“ 1915 – „USS Oklahoma” usf. 1941 – „USS Maddox” und „USS Turner Joe” 1964 – …

Der sogenannte „Zwischenfall von Tongking“ markiert natürlich eine an Dreistigkeit kaum zu überbietende Lüge in den Annalen der internationalen Politik. Allerdings begleiten derartige mysteriöse, konstruierte oder auch reale, sich jedenfalls für das richtige Stimmungsklima nutzen lassende, Schiffshavarien oder Zwischenfälle die US-Kriegsgeschichte geradezu wie ein roter Faden.

Schon im Zusammenhang des imperialen Ausgreifens der aufsteigenden USA auf die Karibik und den Pazifik gab ein solcher Zwischenfall den Ausschlag. So wie der angebliche, „ungeheure Aggressionsakt“ auf die beiden US-Zerstörer „Maddox“ und „Turner Joe“ im Südchinesischen Meer 1964 den Anlass für die US-amerikanischen „Vergeltungsschläge“ abgab, gab bereits für die karibische-pazifische US-Expansion ein anderes berühmtes Schlachtschiff, die „USS Main“, die Anfang 1898 unter mysteriösen Umständen im Haven von Havanna explodierte, den Kriegs-Anlass des amerikanisch-spanischen Kriegs ab. Die Hearst-Presse titelte umgehend: „Remember the Maine! To hell with Spain!“ Ob nun von spanischen Torpedos versenkt oder mittels einer unter dem Schiff detonierten Mine, die Stimmung in den USA wurde auf „Vergeltung“ aufgeheizt. Dass Jahrzehnte später vorgenommene Nachforschungen am Wrack und Untersuchungen 1976 zum Ergebnis kamen, dass die Explosion im Inneren des Schiffs stattfand und wohl auf einen Schwelbrand zurückzuführen ist, vermag den Fortgang der Ereignisse freilich ebenso wenig zu tangieren, wie der später als Kriegslüge enttarnte „Zwischenfalls von Tongking“. Der Sieg über den spanischen Rivalen und Machtkonkurrenten ließ die US-Eroberungen unter Präsident Willam McKinley 1898 imperial weit und auch über den Kontinent hinaus bis an die Grenze Chinas ausgreifen: Kuba, Puerto Rico, Guam, Hawaii, Philippinen (1900 dann auch noch Samoa).

Aber auch für den nachfolgenden Eintritt in das Völkergemetzel des Ersten Weltkriegs spielte abermals ein berühmtes, weiteres Schiff eine maßgebliche Rolle für die angeheizten Verschiebungen in der Massenstimmung. Woodrow Wilson hatte die US-Präsidentschaftswahlen 1912 ja mit dem Versprechen gewonnen, dass die USA nicht in den sich anbahnenden Krieg in Europa eintreten werden und sich 1916 unter der Kampagnen-Losung „Er hielt uns vom Krieg fern!“ die Wiederwahl gesichert. Im Jahr zuvor, 2015, hatte jedoch ein deutsches U-Boot die „Lusitania“ – ein zwischen New York und Liverpool verkehrendes Passagierschiff, das auf seiner Ost-Route allerdings zugleich der geheimen Belieferung Großbritanniens mit kriegswichtigen Waffen und Gütern diente – vor der Südküste Irlands versenkt. Großbritanniens Außenminister Edward Grey frug noch kurz vor der Versenkung der „Lusitania“ den wichtigsten außenpolitischen Berater Wilsons und späteren US-Verhandlungsführer in Versailles Edward Mandell House: „Was wird Amerika tun, wenn die Deutschen ein Passagierschiff mit amerikanischen Touristen versenken?“ und erhielt als Antwort, dass Washington dann etwaig ebenfalls in den Krieg eintreten werde. Ein sofortiger Kriegseintritt stand 1915 allerdings noch nicht auf der Agenda. Das wiederum hieß freilich nicht, dass sich das seit Ende des Bürgerkriegs 1865 in einem rasanten Aufstieg befindliche US-Empire damals mit seinen weiteren Expansionsambitionen zurückhielt. Vielmehr befahl „Friedenspräsident“ Wilson 1915 und 1916 zeitgleich die Besetzung der Dominikanischen Republik und Haitis und ließ die U.S. Army 1916 in Mexiko einmarschieren. Die Kehrtwende und entscheidende Kräfteverschiebung im Washingtoner Establishment hinsichtlich des Ersten Weltkriegs erfolgte dann – begleitet von einer medial breit getrommelten „Erinnerung“ an das Schicksal der „Lusitania“ durch die „Abkömmlinge der Hunnen und Vandalen“ – im Frühjahr 1917.

Die Bedeutsamkeit des japanischen Angriffs auf die, von US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Sommer 1940 zum Unmut und gegen den wiederholten Protest seiner führende Admirale nach Pearl Habor verlegte, US-amerikanische Pazifik-Flotte Ende 1941, sei hier nur der Vervollständigung halber erwähnt. Man braucht freilich keinen Verschwörungstheorien aufzusitzen, gar Missverständnisse über die Bedeutung des Kriegseintritts der USA auf Seiten der Anti-Hitler-Koalition aufkommen zu lassen, um nichts desto trotz den erneuten, frappierenden Stimmungsumschwung in der US-Öffentlichkeit zu konstatieren. Herrschte in den USA bis dahin eine überwältigende Ablehnung eines Kriegseintritts vor – samt einer heftigen Debatte über ein US-„Neutralitätsgesetz“ bis hin zu einem „War Referendum“-Antrag, dem zufolge die US-Wähler:innen über jeden Kriegseintritt des Landes zuvor in einer Volksabstimmung entscheiden müssen – , wurde die US-Army nun von Kriegsfreiwilligen regelrecht überrannt.

Grundelt der maritime „schwarze Schwan“ der US-Kriegsgeschichte heute wieder im Südchinesischen Meer?

Natürlich, konstruierte man mit dem „Zwischenfall von Tongking“ vor 60 Jahren noch einen maritimen Zwischenfall, tat es im berühmten US-Show-Akt vor der UNO 2003 schon ein theatralisch in der Hand gehaltenes Fläschchen um die Weltöffentlichkeit vorzuführen. Andererseits, blickt man nüchternen Auges auf die weltpolitische Lage, scheint einem nicht so unwahrscheinlich doch ein erneuter Schiffszwischenfall im Südchinesischen Meer als nächster Zündfunkte durch die Kriegsbrandung und Äther-Wellen zu „Vergeltungsschlägen“ entgegenzupflügen.

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